Ein Tag, zwei Leben (German Edition)
erst würde ich mir Gedanken darüber machen, was als Nächstes passieren würde.
Mir wurde ganz schwindlig bei all diesen verbotenen Gedanken, und so tat ich das, weshalb ich eigentlich hergekommen war: Ich deckte mich mit allem ein, was ich brauchen würde, und wartete, bis Denise Pause machte, um ein paar Sachen hinter ihrer Ladentheke zu stibitzen. Als ich an meine Kasse zurückkam, wartete dort jemand, der aussah, als wäre er schon eine Weile da.
» Bitte entschuldigen Sie, dass Sie warten mussten. Wie kann ich Ihnen helfen?« Ich war mir sicher, dass ich vor Schuldbewusstsein errötet war. Ich hoffte, er hatte mich nicht dabei erwischt, wie ich im Geschäft meiner eigenen Familie Ladendiebstahl beging.
Der Typ, der mit dem Rücken zu mir gestanden hatte, drehte sich um und starrte mich an. Bevor ich mich beherrschen konnte, schnappte ich ein wenig nach Luft. Er war wahrscheinlich Anfang zwanzig – und seine Ausstrahlung war der Hammer. Eine Mischung aus » Ich bin ein Typ, der Probleme macht« und Imponiergehabe. Und da war … noch etwas. In seinen Augen. Sie waren beunruhigend: dunkelblau und intensiv, mit einer Tiefe, wie man sie normalerweise nicht sah. Augen, die einen leicht durchschauen konnten.
Ich drückte die Schultern nach hinten und machte mich auf Vorwürfe gefasst. Aber er sah mich nur von oben bis unten mit einem Blick an, den ich nicht zu deuten wusste – außer dass er nicht gerade schmeichelhaft war, und schob mir eine Handvoll zerknitterter Papiere hin.
» Wie lange?«, fragte er. Seine vollen Lippen bildeten einen geraden Strich.
Ich schenkte ihm ein knappes Lächeln, während ich ein Dutzend Rezepte durchsah, von denen mehr als nur ein paar für starke Medikamente waren. Das erklärte seine aggressiv-defensive Haltung: Er war ein Drogendealer.
» Das wird eine Weile dauern«, sagte ich zu ihm. » Weil es so viele sind und weil sie nicht alle auf denselben Namen ausgestellt sind.« Kleiner Tipp: Ich weiß, was du da machst. » Die Pharmazeutin wird Ihren Ausweis sehen wollen und telefonisch eine Genehmigung einholen.« Und danach verständigen wir die Polizei.
Ich hielt die Rezepte ganz fest, weil ich erwartete, dass er sie mir aus der Hand reißen und türmen würde. Aber er zuckte nur mit den Achseln, lehnte sich an die Theke und verschränkte die Arme.
» Rufen Sie einfach die Roxbury Medical Clinic an und geben Sie meine Rezeptnummern und meine Ausweisinformationen durch. Sie werden es bestätigen.« Er zog einen Führerschein aus seiner Brieftasche und warf ihn auf die Theke, dann sah er mich aus schmalen Augen an. » Wie lange?«
Dieser Typ war ein Vollidiot. Und glücklicherweise war ich heute nicht in Wellesley, deshalb brauchte ich mich nicht zu benehmen. Ich holte Luft und wollte ihm gerade sagen, dass er sich vom Acker machen sollte, als Denise aus der Pause zurückkam.
» Ethan!«, sagte sie hocherfreut. » Was machst du denn hier?«
Der Drogentyp zuckte mit den Achseln und warf mir einen boshaften Blick zu. » Ich werde verhört.«
Denise sah mich an – ich hatte das Bündel Rezepte in der einen und das Telefon in der anderen Hand – und lächelte. » Schon gut, Sabine. Ethan arbeitet in der Langzeitklinik. Sie kommen mit wöchentlichen Rezepten, aber normalerweise nicht vor Montag.« Sie wandte sich wieder Ethan zu. » Ich habe dich schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen. Wie geht es dir?« Liebevoll drückte sie seinen Arm.
» Einfach spitze.« Seine Stimme troff vor Sarkasmus.
Denise nickte einfach nur, als sei er kein totaler Schwachkopf, und nahm mir die Rezepte aus der Hand. » Ich kümmere mich darum, Sabine.«
Ich warf Ethan einen finsteren Blick zu, der sich jetzt zu amüsieren schien. In diesem Moment kam Mom aus dem Raum mit den Ablagefächern und rief: » Sabine, könntest du die Reinigungs- und Kaffeetour übernehmen?«
» Klar, weil ich das alles auch ganz toll tragen kann«, antwortete ich. Aber Mom hatte die Tür schon wieder zugemacht und mein gebrochenes Handgelenk vergessen. Monatsendabrechnungen konnten so etwas bewirken.
Denise blickte von ihrem Computer auf, in den sie gerade Rezeptinformationen eingab. » Ethan, warum hilfst du Sabine nicht kurz? Es macht dir doch nichts aus, oder?«
Ethan runzelte die Stirn und sah verärgert aus, weil ich plötzlich zu seinem Problem geworden war.
Wütend verzog ich das Gesicht. Ich nahm mein Notizbuch und wollte es in meinen Rucksack stecken, doch stattdessen warf ich aus Versehen mit dem
Weitere Kostenlose Bücher