Girls Game
An allem.
Und weil es eben oft nicht so läuft, wie es in irgendeinem feinen Plan stand. Falls es den überhaupt irgendwann gab.
So wurde aus mir nicht der prognostizierte Nachfolger im Handwerksbetrieb meines Vaters, auch das alternative BWL-Studium blieb nach kurzem Anlauf auf der Strecke. Doch meine unbändige Neugier zeigte mir schon bald den Weg in den Journalismus in sämtlichen Ausprägungen. Mein absoluter Traumjob. Immer mit dem Ziel, den Dingen auf den Grund zu gehen.
Ohne Rücksicht auf Nasen.
Und jetzt ist es wieder mal soweit. Noch vor mehr oder weniger schmerzhaften Erfahrungen von lebensgefährlichem Schleifpapier bis unglaublich zärtlicher Gesichtsbehandlung steht gleich vorweg eine an, die weiter gehen soll: zum Kern des Kerls. Vor all den erstaunlichen Veränderungen am Äusseren will ich im Selbstversuch erkunden, was die Unterschiede zwischen Mann und Frau im Inneren ausmacht: Gefühl. Gedanken. Verhalten.
Die notwendigen Voraussetzungen sind im Internet gründlich und schnell recherchiert: europaweiteBezugsquellen, jede Menge frei zugängliche Dissertationen, Inhaltsstoffe, Kontraindikationen.
Das Risiko scheint kalkulierbar. Also los!
Der Weg zur Wahrheit besteht diesmal aus lächerlich kleinen weissen Pillen und unauffällig durchsichtigen Pflästerchen: Testosteronblocker und Östrogen, dem weiblichen Sexualhormon.
Schon wenige Stunden nach der ersten Applikation setzt eine erste Wirkung ein. Trotz üblicher Raumtemperatur beginne ich zu frieren. Ein Eindruck, an den ich mich in den nächsten Wochen und Monaten aber schnell gewöhne. Was dann aber kommt, bringt den Mann in mir erstmal restlos durcheinander.
Der Druck ist weg.
Was jahrzehntelang tägliche Standardprozedur war, rückt mehr und mehr in den Hintergrund. Ohne täglichen Orgasmus wurde ich ziemlich zügig unerträglich. Jetzt? Gepflegte Gelassenheit. Es gibt Wichtigeres als Sex. Unglaublich.
Auch äusserlich tut sich etwas. Meine Haut verändert sich erstaunlich schnell, wird weicher, glatter. Fältchen um die Augen? Verschwunden. Altersflecken auf den Unterarmen? Unsichtbar. Rund zehn Jahre sind wie weggeblasen. Genauso schnell weg wie jahrelang antrainierte Arm- und Beinmuskeln. Und die Atmung scheint etwas zu kurz zu kommen. Wo ich vor Wochen noch federnd über Treppen sprintete, komme ich jetzt hechelnd oben an. Aber immerhin – ich komme noch oben an.
Hätte ich so heftig nicht erwartet. Schliesslich arbeiten die männlichen Bauplanboten schon einige Jahrzehnte in und mit mir. Und jetzt übernehmen die Weibchen das alles in wenigen Wochen, krempeln den Kerl total um? Weit mehr als das.
Am meisten verblüfft mich die Verhaltensänderung. Ich, der ich im ersten Leben ständig unter Strom stand, finde jetzt plötzlich Zeit, ein dickes Buch in Ruhe durchzulesen. Einen feinen Cappuccino wirklich zu geniessen. Ohne parallel auf womöglich wichtige Mails zu starren. Einfach mal einfach nicht rangehen, wenn‘s auf allen Leitungen piept. Nichts gegen Hochspannung... aber auf lange Frist ging mir das heftig an die Nerven.
Tatsächlich alles nur eine Frage der inneren Chemie? Scheint nicht nur so. Und startet eine Hochrechnung, die mich völlig ins Grübeln bringt:
Nach letzten Ergebnissen der Zwillingsforschung ist unser tägliches Verhalten fast zur Hälfte von genetischer Programmierung bestimmt. Dazu kommt jetzt – nach eigener Erfahrung – eine hormonelle Zwangssteuerung von mindestens 30 Prozent, Tendenz eher mehr. Bleiben für eigene Entscheidungsfindung lächerliche 20, vielleicht sogar noch deutlich weniger Prozente. Das ist nicht wirklich viel.
Alles Quatsch! Ich bin ein Mann! Kapitän meines Lebens, unermüdlich auf der Suche nach neuen Wegen, neuen Erkenntnissen, besseren Lösungen, alles immer unter Kontrolle!
Mag ja alles sein, meint da meine verständnisvolle weibliche Seite. Aber denk‘ doch ausnahmsweise mal kurz nach... wie oft stand ich in der Vergangenheit kopfschüttelnd neben Dir, weil wieder alles schnell, schnell und nur nach Deinem Kopf gehen musste?
Und was hat es gebracht? Recht hat sie – und mir dämmert allmählich, dass dafür nicht ich, sondern ein paar Rezeptoren nebst fleissiger Botenstoffe in meinem Inneren verantwortlich waren.
Guter Ansatz. Wozu immer alles kontrollieren müssen, wenn es eh‘ nicht geht? Sehr beruhigend. Und gleichzeitig sehr gesundheitsfördernd.
Nur die Tatsache, dass mich der Drang, das alles aufzuschreiben, schon seit Monaten immer wieder mitten in
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