Ein Totenhemd fur einen Erzbischof
nächtliche Besucher war?»
Bruder Ine zuckte die Achseln. «Das habe ich doch schon gesagt», brummte er. Dann schien ihm etwas einzufallen. «Ich dachte, die custodes hätten einen Iren aus Wighards Gemächern fliehen sehen und verhaftet? Spricht das nicht dafür, daß er der Besucher war?»
«Bruder Ine», fuhr Fidelma fort, ohne darauf einzugehen, «gehörte es, da Ihr Wighards persönlicher Diener wart, auch zu Euren Aufgaben, die wertvollen Geschenke aus den sächsischen Königreichen zu hüten, die er Seiner Heiligkeit mitgebracht hatte?»
Wieder huschte Mißtrauen über das Gesicht des Mönchs. «Ja. Warum fragt Ihr danach?»
«Wann habt Ihr diese Geschenke das letzte Mal gesehen?»
Ine dachte nach. «Gestern. Wighard bat mich, dafür zu sorgen, daß alles auf Hochglanz poliert und für die heutige Übergabe an den Heiligen Vater vorbereitet ist.»
«Ah!» Fidelmas Atem ging rascher. «Wighards Audienz bei Seiner Heiligkeit sollte also der Übergabe der mitgebrachten Geschenke dienen?»
«Und der Segnung der Kelche aus den fünf Königreichen», ergänzte Eadulf. «Das war allgemein bekannt.»
Fidelma wandte sich an Eadulf. «Wenn Habgier also in diesem Mordfall tatsächlich eine Rolle spielt, bleibt festzuhalten, daß die wertvollen Geschenke heute der strengen Obhut des Schatzmeisters Seiner Heiligkeit übergeben werden sollten und viele von dieser Tatsache wußten?»
«Aber sie wußten auch», warf Eadulf ein, «daß Wighard die Kelche nach der Segnung zurückerhalten würde, um sie nach Canterbury mitzunehmen.»
«Der größte Teil des Schatzes sollte jedoch hinter den gutbewachten Türen der päpstlichen Schatzkammer verschwinden?»
«So ist es», räumte Eadulf ein.
Bruder Ine sah sie bestürzt an. «Wollt Ihr damit sagen, daß die Geschenke nicht mehr da sind?» fragte er.
«Das wißt Ihr noch nicht?» fragte Fidelma erstaunt zurück. Ines Erstaunen war offenbar echt.
«Nein. Das hat mir noch niemand gesagt.»
Der sächsische Mönch wirkte empört. Wahrscheinlich, mutmaßte Fidelma, fühlte er sich als Vertrauter Wighards in seinem Stolz gekränkt. Doch die Entrüstung machte bald wieder seiner üblichen Schwermut Platz.
«Ist das alles?» fragte er mit Trauermiene.
«Nein», entgegnete Fidelma. «Ihr habt die Geschenke also gestern noch einmal auf Hochglanz gebracht … Um welche Stunde war das?»
«Kurz vor dem Abendessen.»
«Und zu der Zeit war noch alles da?»
Ine reckte trotzig das Kinn. «Aber gewiß doch. Es war alles da.»
«Und als Ihr am Abend zu Wighard gegangen seid», mischte sich Eadulf ein, «war die Truhe da offen oder geschlossen?»
«Geschlossen», lautete die prompte Antwort des sächsischen Mönchs.
«Wie könnt Ihr Euch da so sicher sein?» fragte Fidelma nach.
«Weil der Blick sofort auf die Truhe fiel, wenn man Wighards Gemächer betrat.»
«Wurde der wertvolle Schatz von irgend jemandem bewacht?»
«Nur von den custodes des päpstlichen Palasts. Einer der Soldaten patrouillierte ständig auf den Treppen.»
Fidelma dachte nach. «Auf den Treppen? Nicht auf dem Korridor?»
«Ja. Außerdem waren an den Eingängen zum Gästehaus Wachen postiert. Wir waren im dritten Stockwerk des Gebäudes untergebracht, dorthin konnte man nur über die beiden Treppen gelangen.»
«Aber die Wachen waren nicht ständig im Korridor. Es hätte also jemand den Schatz fortschaffen können, ohne dabei gesehen zu werden.»
«Doch niemand konnte aus dem Gebäude gelangen, ohne den custodes in die Arme zu laufen.» Ines Miene erhellte sich. «Natürlich! So haben sie ja auch den irischen Mönch gefangen! Dann müßte der Schatz doch längst geborgen sein.»
Fidelma warf Eadulf einen bedeutungsvollen Blick zu und wandte sich dann wieder an Bruder Ine. «Eures Wissens nach gab es also keine ständige Bewachung für den Schatz? Keiner der Soldaten hat ständig vor Wighards Gemächern Dienst getan?»
«So ist es.»
Fidelma seufzte tief und lehnte sich zurück. «Danke, das wäre alles. Vielleicht werden wir Euch später noch einmal rufen lassen.»
Mit dem gleichen Widerwillen, den er beim Betreten des officiums an den Tag gelegt hatte, erhob sich Bruder Ine von seinem Stuhl und ging hinaus. Nachdem die Tür sich hinter ihm geschlossen hatte, drehte Fidelma sich zu Eadulf um.
«Wir wissen jetzt, daß der gestohlene Schatz kurz vor dem Abendessen zum letzten Mal gesehen wurde und Wighard zwei Stunden vor Mitternacht noch gesund und munter war. Außerdem wissen wir, daß Wighard
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