Ein Traum in roter Seide
wirkte. Sie versteifte sich.
„Was ist los?" stieß sie hervor. „O nein, aber nicht Kevin! Ihm ist etwas passiert, stimmt's?" Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, und instinktiv packte sie Tyler am Arm. „Hatte er einen Autoun fall? Er fährt wie ein Verrückter, sogar noch schneller als du. Ich habe ihm immer gesagt, er solle langsamer fahren, sonst..."
„Kevin ist nichts passiert", unterbrach Tyler sie und nahm ihre Hände.
„Aber ich bin seinetwegen hier, weil ich dachte, du brauchtest mich vielleicht."
„Dich? Warum das denn?" Michelle sah ihn verständnislos an.
Tylers Lächeln wirkte seltsam traurig. Jetzt verstand sie gar nichts mehr.
„Na ja, ich bin ja wohl der Einzige aus unserem früheren Freundeskreis, an dessen Schulter du dich ausweinen kannst." Er zog die Worte in die Länge. „Alle anderen sind im Ausland oder verheiratet - oder heiraten in Kürze", fügte er ruhig hinzu.
Michelle blickte ihn einige Sekunden lang an. Ein schwarzes Loch schien sich vor ihr aufzutun, während sie anfing zu begreifen.
Schließlich blickte sie auf das Kuvert, das sie in der Hand zerknüllt hatte.
Ihr war plötzlich klar, wer der Absender war. Kevin, es war Kevin. Er würde heiraten, aber nicht sie. Michelle liebte ihn seit zehn Jahren, seit dem ersten Semester auf der Universität. Vier Jahre lang war sie seine feste Freundin gewesen, dann hatten sie zwei Jahre zusammengelebt. Danach hatten sie sich mehrmals get rennt, um sich anschließend wieder zu versöhnen. Und seit ih rer letzten Trennung Anfang des Jahres wartete sie naiv und gut gläubig darauf, dass er zur Besinnung kommen würde. Sie war davon überzeugt gewesen, er 5
würde einsehen, dass keine andere Frau ihn so sehr liebte wie sie.
„Ich hatte heute eine Einladung im Briefkasten, als ich nach Hause kam", sagte Tyler. „Sogleich habe ich an dich gedacht. Ich konnte mir gut vorstellen, wie sehr es dich schockieren würde, auch so eine Einladung vorzufinden. Deshalb bin ich hier." „Wie ... mutig von dir", erwiderte sie leise. „Mutig?" Tyler verzog die Lippen. „So würde ich es nicht nennen. Du warst doch auch für mich da, als ich dich brauchte. Das habe ich nie vergessen. Nimm einfach meine Hilfe an, so wie ich damals deine angenommen habe."
Michelle sah ihn an. Seltsam, dass er ausgerechnet jetzt dieses Ereignis erwähnte, nachdem sie kurz zuvor auch daran gedacht hatte.
Demnach hatte er den flüchtigen Moment, als sie sich damals auf emotionaler Ebene verstanden und sich verbunden gefühlt hatten, nicht vergessen.
„Wen heiratet er?" fragte sie angespannt. „Kenne ich sie?" „Du hast sie auf meiner Silvesterparty kennen gelernt. Sie heißt Danni Baker."
Ihr wurde ganz übel. Kevin hatte sich kurz nach dieser Party von ihr getrennt. Jetzt war ihr klar, warum.
Plötzlich war ihr Ärger stärker als der Kummer und Schmerz. „Dann kann ich mich bei dir dafür bedanken, stimmt's?" fuhr sie Tyler an und zog die Hände zurück.
Sekundenlang war er betroffen. „Das ist nicht fair, Michelle", sagte er schließlich.
„Mag sein, aber es ist die Wahrheit", entgegnete sie. „Wenn du uns nicht immer zu deinen Partys eingeladen hättest, wäre es nicht passiert. Du hast Kevin mit deinem unglaublich luxuriösen Lebensstil so sehr beeindruckt, dass er mehr Geld haben wollte, als er verdienen konnte. Du hättest uns in Ruhe lassen müssen." Sie atmete tief ein und fing auf einmal an zu schluchzen. „Jetzt heiratet er so eine schöne und reiche Tussi, mit der ich nicht konkurrieren kann."
„Es tut mir Leid, dass du es so siehst, Michelle. Aber ich bin der Meinung, du kannst mit jeder Frau konkurrieren, denn du bist nicht nur schön, sondern auch intelligent."
„Ach, hör doch auf!" erwiderte sie ungeduldig. Für Komplimente hatte sie jetzt keine Zeit. „Seit wann interessiert sich ein Mann für die Intelligenz einer Frau? Und was Schönheit angeht, so weiß ich genau, wie ich aussehe. Ich bin eine ganz passable Brünette mit einer 6
einigermaßen guten Figur. Ende der Geschichte."
„Du untertreibst. Du bist eine sehr attraktiv e Brünette mit einer fantastischen Figur. Okay, ich gebe zu, Danni ist große Klasse, sie ist reich, aber nicht eingebildet. Ehrlich gesagt, sie tut mir Leid, denn wir beide, du und ich, wissen, dass Kevin sie nicht aus Liebe heiratet."
„Klar, denn er liebt mich."
„So?" Tylers Stimme klang sarkastisch.
„Natürlich!" bekräftigte Michelle, obwohl es so natürlich gar nicht war. Wenn er sie wirklich
Weitere Kostenlose Bücher