Ein Tropfen Blut
Gelegenheit, über sie herzufallen. Die beiden Schlosser, die jeden Morgen mit ihr zusammen an der Haltestelle standen, der Busfahrer, der ihr immer zunickte, sobald sie in den Wagen kletterte, die Arbeitskollegen, die ihre Späßchen machten und sie manchmal fragten, was denn mit ihr los sei.
Nein, nichts war mehr so wie vorher.
Und ihre Freundinnen und Freunde: ›Stell dich nicht so an, warum vergräbst du dich in deiner Wohnung, komm doch mit zur Ruhr runter oder wir gehen heute in der Stadt ein Bier trinken.‹
Nein, sie hatte ihnen natürlich nicht gesagt, was ihr passiert war. Aber die wussten doch auch so, was los war. Jeder wusste es.
Das Wasser war jetzt heiß genug, Angela beugte sich vor und pfriemelte den Stöpsel wieder in den Abfluss. Dann griff sie nach dem Glas mit dem Rotwein, kniff angesichts des extrem bitteren Geschmacks das Gesicht zusammen und seufzte, als das Zeug endlich in ihrem Magen gelandet war.
Langsam lehnte sie sich wieder zurück und schloss die Augen.
Auch der Psychofritze war so ein Arsch! Hatte, als sie mit ihm telefoniert hatte, bestimmt grinsend auf seinem Ledersessel gehockt, in seinen Terminkalender geschaut, wann er sie einschieben könnte, und sich schon innerlich darüber gefreut, alles wieder aufleben lassen zu können. Klar, er hatte verständnisvoll geklungen, das lernt man ja auf der Uni. Wahrscheinlich hätte er sich während der ersten Sitzungen auch noch zurückgehalten, aber dann hätte er es auch versucht… oder er hätte sie in Hypnose versetzt, damit sie nicht merkte, was er mit ihr anstellte. Nein, sie hatte aufgelegt und nicht wieder angerufen.
Diese Polizistinnen waren nett, beide, sowohl die mit den dunkelblonden Haaren als auch die mit der langen Mähne. Sie hatten ihr zugehört, hatten ihr das Gefühl gegeben, dass sie sie ernst nahmen, ihr helfen wollten. Sie hatte erzählt, was passiert war, und sie hatte sich für einen Moment ein wenig besser gefühlt. Aber nachdem ihre Aussage aufgenommen worden war, hatte sie wieder nach Hause gemusst. Gerne hätte sie eine von den beiden gefragt, ob sie nicht mal abends bei ihr vorbeikommen wollten, nur so, einfach ein bisschen reden, auf andere Gedanken kommen. Aber dafür hatten die bestimmt keine Zeit, also hatte sie ihre Frage heruntergeschluckt. Und auf Dauer hätte ihr das auch nicht geholfen.
Angela griff wieder nach dem Glas und schaute in die rote Flüssigkeit. Die Tabletten hatten sich endlich aufgelöst. Zwanzig Pillen hatte sie in den Rotwein gebröselt, harmloses Zeug, in jeder Apotheke frei verkäuflich. Umbringen konnte sie sich damit nicht. Aber vielleicht schmerzte es dann nicht ganz so.
Als der Pillencocktail bis auf den letzten Tropfen vernichtet war, stellte sie das Glas auf den kleinen Hocker neben der Wanne zurück. Ihre Finger waren ruhig, als sie nach dem Teppichmesser griff und die Stabilität der Klinge prüfte. Sie hatte die Schraube, die die Schneide festhielt, so fest sie konnte, angezogen. Auf gar keinen Fall ein unnötiges Risiko eingehen.
Angela wusste natürlich, wie sie die Klinge ansetzen musste. Längs, nicht quer. Sie biss die Zähne zusammen, dann tauchte sie die Klinge knapp unterhalb des Handballens in die vom Badewasser aufgeweichte Haut und zog durch.
Es tat fast gar nicht weh. Angela lächelte, als sich das Wasser rot einfärbte. Sie nahm das Messer in die andere Hand und schnitt auch den rechten Unterarm auf. Zufrieden ließ sie das Messer los und tauchte ihre Handgelenke wieder in das heiße Wasser.
Kurz bevor sie das Bewusstsein verlor, klingelte im Wohnzimmer das Telefon.
Egal, es war vorbei.
45
»Schade«, seufzte Annika Schäfer, als sie nach dem zehnten Läuten den Hörer wieder auf die Gabel legte. »Sie ist nicht zu Hause.«
»Wahrscheinlich hält sie es in ihrer Bude allein nicht aus«, überlegte Katharina und schüttelte heftig die Thermoskanne, um den letzten Rest Kaffee herauszufordern. »Dabei hätte sie bestimmt gerne gewusst, dass wir den Kerl geschnappt haben, der sie vergewaltigt hat.«
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