Ein unbeschreibliches Gefuehl
möglich, ohne dass man sich auch um sich selbst kümmert. Ganz ähnlich haben das übrigens etwa zeitgleich einige hundert Kilometer weiter südlich die Autoren der jüdischen Thora ausgedrückt, des späteren Alten Testaments … Das Streben nach Wohlergehen, so Aristoteles, existiert als Energie in allem, was ist. Ohne es könnten wir nicht sein. Es ist aber nicht mit Egoismus zu verwechseln, sondern bedeutet schlicht Selbstbejahung. Wer sich selbst bejaht, der hat auch genug Energie für andere, für die Freundschaft.
Mit diesen Gedanken hat Aristoteles die Beziehungsfähigkeit des Menschen ganz tief in dessen Wesen verankert. Heutige Paartherapeuten sehen das ähnlich, sie haben dafür den Begriff der »sicheren Bindung« geprägt. Wer aus der eigenen Kindheit die Erfahrung des Gewollt- und Bejahtwerdens mitbringt, dem fällt es leichter, stabile Beziehungen aufzubauen und zu pflegen.
Über den Abstand zweier Jahrtausende hinweg können wir aus Aristoteles’ Gedanken also ein höchst emanzipatorisches Beziehungsmodell gewinnen: Eine gute, stabile Beziehung findet zwischen Menschen statt, die einander wohlwollen wie sich selbst. Das schließt fundamentale Abhängigkeiten aus. Nur wer beieinanderbleibt, nicht weil er muss, sondern weil er will, der trifft wirklich eine freie und damit tragfähige Entscheidung. Es ist sehr wichtig, sich im Alltag, wenn die unvermeidbaren Sachzwänge Einzug gehalten haben, immer wieder an diese ursprüngliche Freiheit der Entscheidung zu erinnern und zu überprüfen, ob sie noch spürbar ist. Nicht, um im Zweifelsfall gleich davonzulaufen, sondern um die Freiheit möglichst wiederzuentdecken.
Bevor wir mit diesen Erkenntnissen die Wandelhalle des Aristoteles verlassen, schauen wir noch kurz, neugierig gemacht durch die Begriffe von Freiheit und Selbstliebe, ins Zentrum der aristotelischen Philosophie. Die kreist teilweise schon auch, wie diejenige Platons, um die Frage nach dem Sein, also nach dem, was »die Welt im Innersten zusammenhält«, um es mit Goethe zu sagen. Erinnern wir uns: Für Platon war die ganze Welt eine Ansammlung unvollkommener Abbilder, die nur deshalb existieren können, weil jenseits oder besser oberhalb von ihnen die Urbilder, die Ideen, als wahre Realität bestehen. Aristoteles sieht das anders. Deshalb zeigt er auf Raffaels berühmtem Gemälde nach unten statt nach oben: Für ihn hat jedes konkrete Ding auf dieser Welt in sich selbst die Kraft, da zu sein. Zu existieren bedeutet für ihn, von der Möglichkeit zur Wirklichkeit unterwegs zu sein – und das wiederum heißt im weitesten Sinne, in Bewegung zu sein. Dasein ist Unterwegssein, ist Bewegtsein.
Doch woher kommt die Bewegung? Sie musste verursacht werden durch eine andere, davor liegende Bewegung. Und die ist wiederum von der vorhergehenden angestoßen worden … Wir ahnen es, hier tut sich eine Reihe von Dominosteinen auf, eine Kette von Ursache und Wirkung, in die alles eingegliedert ist, was existiert. Aristoteles verfolgt diese Kette immer weiter zurück, bis an den Anfang, bis an den ersten Dominostein, der die Kettenreaktion auslöst. Und da, ganz am Anfang, stößt er notgedrungen auf etwas, das alles andere verursacht und in Gang setzt, das selbst aber unbewegt ist. Dieses Etwas ist Gott. Gott ist bei Aristoteles keine Person, sondern ein Prinzip, der Geist, der sich selbst erkennt, ein »unbewegter Beweger«, der alles andere in Bewegung setzt. Gott ist die erste Ursache aller Phänomene in der Welt, die erste Ursache aller Bewegungen.
Hier kommt nun wieder die Liebe ins Spiel. Aristoteles vergleicht nämlich Gott, den unbewegten Beweger, mit unserer Selbstliebe. Die Selbstliebe ist ja nach Aristoteles die Voraussetzung dafür, dass wir andere lieben können. Sie ist also wie ein Dominostein, der unsere Liebe zu anderen anstößt. Aber sie selbst benötigt keine Ursache, denn sie setzt den Anfang. In unserer Liebe zu uns sind wir selbst unsere eigene Ursache. Die Selbstliebe ist damit so etwas wie der unbewegte Beweger in uns. Sie besteht aus sich selbst heraus, von nichts anderem verursacht als von sich selbst. Das ist wirklich der Inbegriff der Freiheit. Diese Freiheit ist der innerste Kern all unseres Liebens. Vergessen wir ihn nie!
Die Freundschaft hat übrigens das Leben des Aristoteles sehr geprägt. Zeitlebens war der Philosoph einem einstigen Mitschüler in Platons Akademie so tief verbunden, dass den beiden eine Affäre nachgesagt wurde. Dieser Freund, Hermeias von
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