Ein unbeschreibliches Gefuehl
Aber wo bleibt denn nun die versprochene Leidenschaft? Die sinnlich-sexuelle Liebe in der Paarbeziehung kann es nicht mehr sein, denn ihr hat Augustinus seit seiner Bekehrung abgeschworen. Rückblickend betrachtet er sie als schwere Sünde oder doch zumindest als weniger wertvoll im Vergleich zur religiös motivierten Keuschheit: »Nebel stiegen auf aus dem Sumpf der Lüste meines Fleisches und aus dem trüben Sprudel erwachender Manneskraft, und sie umwölkten und verfinsterten mein Herz, dass es nicht mehr zu scheiden wusste zwischen der heiteren Reinheit der Liebe und der Finsternis der Wollust.« Und er gesteht Gott: »Ich taumelte durchs Leben in Unzucht und Hurerei und vergeudete und vergoss und verspritzte meine Kraft, und du schwiegst! … Mehr und mehr warf ich aus den unfruchtbaren Samen, der nur Schmerzen zeugt.«
Die Leidenschaft, die aus diesen Worten spricht, erklärt sich aus der Biographie ihres Verfassers. Augustinus hat wirklich gelitten, bevor er im Gottesglauben Ruhe fand. »Zu deinem Eigentum erschufst du uns, und ruhelos ist unser Herz, bis es ruht in dir«, so spricht er Gott in seinen »Bekenntnissen« an. Die »Bekenntnisse« sind Augustinus’ spirituelle Autobiographie. In ihnen schildert er sein Gottsuchen und -finden, zur eigenen Selbstvergewisserung und den Lesern als hilfreiches Beispiel. Das ist neu! Hier kommt ein subjektiver Ton hinein, der in den wohltemperierten Schriften der Griechen fehlte. Tatsächlich hat Augustinus, der religiös motivierte Autobiograph, in seinen Schriften unsere moderne Innerlichkeit und unser Interesse am eigenen Seelenleben vorgebildet. Wer wird sich nicht wiedererkennen in den Schilderungen der Liebe als scheinbar endloser Suchbewegung! Und wer wird nicht das Glück nachvollziehen können, das sich einstellt, wenn die Suche an ihr Ziel gekommen ist, wenn die Unruhe der Ruhe weicht, dem Glück des Findens! Wenn Augustinus »ich« schreibt, dann meint er wirklich sich selbst, sich als Individuum mit seiner ganz persönlichen Geschichte – und vor allem mit seinen individuellen Gefühlen. Die Liebe ist für Augustinus zuallererst ein Gefühl, ein »Affekt«, wie er es philosophisch ausdrückt. Daher rührt der leidenschaftliche Ton, in dem er von ihr schreibt.
Wo aber sitzt die Liebe, deren Ziel Augustinus so schmerzlich suchte und so glücklich fand? Seine Antwort lautet: im Herzen. Mit Augustinus ist es als Ort der Gefühle ins Zentrum des menschlichen Selbstverständnisses gerückt. »Ruhelos ist unser Herz, bis es ruht in dir.« Das Herz ist der Mittelpunkt des fühlenden und sehnenden Menschen, dort sitzt der Antrieb, der uns nicht ruhen lässt, der uns, so der gläubige Augustinus, nach den Möglichkeiten fragen lässt, zu Gott aufzusteigen, um ihn zu erkennen.
Dieser Aufstieg beginnt, ähnlich wie bei Platon, bei der sinnlichen Welt. Die jedoch muss man – da ist Augustinus sehr viel radikaler als Platon – ganz hinter sich lassen, zugunsten einer rein geistigen Innerlichkeit. Von der aus geht es weiter hinauf bis zu Gott. Freilich sollten wir nicht glauben, dass wir den Aufstieg aus eigenen Kräften schaffen. Seit dem Sündenfall sind unsere Möglichkeiten hier doch sehr begrenzt, sagt Augustinus, und es wäre gerade ein Kennzeichen falscher Liebe, nämlich hochmütiger Selbstliebe, sich das nicht einzugestehen. Die Liebe zu Gott können wir nicht selbst bewerkstelligen. Sie ist ein Geschenk, das Gott uns macht. »Du bekehrtest mich zu dir«, schreibt Augustinus in den »Bekenntnissen«. Er hat seine Bekehrung nicht als eigene Leistung angesehen, sondern als Werk Gottes an ihm, seinem Geschöpf. Damit begründet er eine wichtige Tradition abendländischer Religiosität. Sie wird über tausend Jahre später Martin Luther aus seinen Gewissensqualen erretten, als dieser, ein junger Mönch noch, sich verzweifelt fragt, wie er es denn bewirken könne, dass Gott ihm gnädig sei. Gar nicht, so wird Luther dann in einer glücklichen Stunde erkennen. Gott selbst ist es, der den Anfang macht mit der Liebe. Das wird dann die Geburtsstunde des Protestantismus sein.
Doch zurück zu Augustinus! Er wäre natürlich überhaupt nicht einverstanden damit, wenn wir seine Gedanken über die Liebe zwischen Gott und Mensch jetzt höchst profan auf das zwischenmenschliche Miteinander anwenden. Auf der Unvergleichbarkeit beider Liebesarten beruht ja seine Lehre. Aber bei allem Respekt: Es wäre schade, sich die Ideen des Kirchenvaters für unsere Zwecke entgehen
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