Ein Weihnachtswunder zum Verlieben - Roman
verfallen.
Es mag zwar der 1. Dezember sein, aber davon ist bei Hardy’s nichts zu spüren. Eigentlich müsste das jetzt gerade die geschäftigste Einkaufszeit des ganzen Jahres sein, aber der Laden liegt Tag für Tag da wie eine verlassene Geisterstadt. Und um dem Elend die Krone aufzusetzen, hat die Geschäftsleitung in diesem Jahr auch noch beschlossen, ausgerechnet an der Weihnachtsdekoration zu sparen. Weshalb Hardy’s traditioneller Publikumsmagnet, die gut fünfzehn Meter hohe Fichte, die jahrzehntelang immer gleich neben der Haupttreppe stand, wo sie sich unter Christbaumschmuck bog und stolz die Stapel zauberhaft verpackter Weihnachtsgeschenke bewachte, kurzerhand gestrichen wurde. In einem Anfall von Sparsamkeit schlug Rupert Hardy, ein Hardy der vierten Generation in der Geschäftsleitung, vor, wir sollten stattdessen die zwei Dutzend billigen, geschmacklosen silbernen Plastiktannen aufstellen, die sein Vater Sebastian irgendwann in den achtziger Jahren angeschafft, aber nie aufgestellt hatte. Rupert meinte, sie seien eine kleine Verbeugung vor den modernen Zeiten, dem trendigen »Weihnachtsminimalismus«, aber wir alle wissen nur zu gut, dass es bloß eine Sparmaßnahme ist. Doch um welchen Preis?, bin ich versucht zu fragen. In einem Laden ohne den leisesten Hauch von Weihnachtsstimmung will doch niemand einkaufen. Und die Kunden brauchen nur einen Blick auf die erbärmliche Fensterdekoration zu werfen und wissen gleich, dass Hardy’s die festtägliche Weihnachtsstimmung gänzlich abgeht.
Seufzend betrachte ich den aufgesprühten Kunstschnee, der das Dutzend kleiner, mickriger Bäumchen rahmt, die offensichtlich für die Raunächte stehen sollen, drei in jedem der vier großen Schaufenster. Sie sehen zum Gotterbarmen aus. Und der echte Schnee, der sich heute Morgen wie Puderzucker auf das Straßenpflaster gestäubt hat, lässt unsere halbherzig geschmückten Weihnachtsfenster umso trauriger erscheinen.
Ich marschiere zum Personaleingang an der Seite des Gebäudes, ziehe meine Karte durch das Lesegerät und lächele Felix zu, unserem Wachmann, der wie immer völlig in sein Sudoku vertieft ist. Auf dem Weg den Flur hinunter gehe ich am Schwarzen Brett der Belegschaft vorbei, auf dem der aktuelle »Mitarbeiter des Monats« aushängt. Diesmal ist es meine gute Freundin Carly. Ich freue mich wirklich für sie; sie hat es sich redlich verdient. Als persönliche Einkaufsberaterin leistet sie tolle Arbeit, und sie hat ein unnachahmliches Talent dafür, den Kunden zu helfen, ihren eigenen, individuellen Stil zu finden, ganz gleich, ob groß oder klein, dick oder dünn und egal welche Persönlichkeit oder Vorlieben derjenige hat. (Sie hatte mal einen präoperativen transsexuellen Kunden, der, als er nach zwei Stunden mit Carly das Kaufhaus wieder verließ, aussah, als sei die OP vollkommen überflüssig. Unglaublich.) Sie sagt, sie ist wie eine Heiratsvermittlerin, nur dass sie Kunden und Kleider verkuppelt.
Aber ich kann nicht leugnen, wie enttäuscht ich war, dass nicht ich für diese Auszeichnung ausgewählt wurde. Ich war noch nie Mitarbeiterin des Monats, während Carly diese Ehre nun bereits zum zweiten Mal zuteil geworden ist. Halb so wild, sage ich mir, als ich da so vor ihrem Foto stehe – und sehe, wie alles an ihr vor Lebendigkeit nur so zu sprühen scheint: ihre Augen, Zähne, Haut, Haare; ja, sie strahlt förmlich –, denn heute ist mein Tag. Carly mag den Job als Einkaufsberaterin bekommen haben, aber eine leitende Position für jemanden, der Hardy’s wie seine Westentasche kennt? Das klingt doch sehr nach mir.
An dem Anschlagbrett hängen Fotos sämtlicher Angestellter. Und ich kann mit Stolz behaupten, jeden einzelnen davon mit Namen zu kennen; ich weiß, mit wem sie zusammenleben, wie ihre Kinder heißen, wie alt sie sind und welche (unerschöpflichen) Talente in ihnen schlummern. Ich weiß, wo sie wohnen, ich kenne ihre Sorgen und ihre Träume. Da wäre zum Beispiel Gwen, die Leiterin der Kosmetikabteilung; eine aufgeweckte Frau und eine unglaublich gepflegte Erscheinung, die hinter ihrem strahlenden aufgesetzten Lächeln ein dunkles Geheimnis verbirgt: einen gewaltigen Berg an Kreditkartenschulden. Oder nehmen wir Jenny, Gwens treue Assistentin. Sie ist fünfunddreißig und bemüht sich seit einiger Zeit erfolglos, ein Baby zu bekommen. Im Laufe meiner zwei Jahre bei Hardy’s habe ich mit ansehen müssen, wie aus einer strahlenden Braut eine verzweifelte Ehefrau wurde, von der Sorge
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