Immortals After Dark 12 - Lothaire
Prolog
Burg Helvita, die Festung der Horde
Russischer Winter, in einem längst vergangenen Zeitalter
»Welch neue Schmach der Tag heute wohl bringen mag?«, fragte Iwana die Kühne ihren Sohn Lothaire, als die Wachen sie zu dem Vampir geleiteten, der unter dem Namen Stefanowitsch bekannt war. Er war der König der Vampirhorde.
Und Lothaires Vater.
Obwohl er erst neun Jahre zählte, bemerkte Lothaire den draufgängerischen Unterton in der Stimme seiner Mutter.
»Und warum ließ er dich wecken?«, fragte sie ihn mit herrischer Stimme, als ob er die Launen seines Vaters erklären könnte.
Der Ruf war zur Mittagszeit erfolgt, einer Zeit also, zu der er längst im Bett lag. »Ich weiß es nicht, Mutter«, murmelte er, während er an seiner Kleidung herumzupfte. Ihm waren nur Sekunden geblieben, um sich anzukleiden.
»Ich bin dieser Behandlung überdrüssig. Eines Tages wird er es zu weit treiben und es bitterlich bereuen.«
Lothaire hatte zufällig mitbekommen, wie sie sich bei seinem Onkel Fjodor über die »Tiraden und Tändeleien« des Königs und »sein zunehmend bizarres Verhalten« beklagt hatte. Mit leiser Stimme hatte sie ihm gestanden: »Ich habe meine Liebe an deinen Bruder verschwendet. Ich bin in diesem Reich nichts als eine schlecht behandelte Geliebte, wenngleich ich doch die Erbin des Throns von Dakien war.«
Fjodor hatte versucht, sie zu trösten, doch sie hatte nur gesagt: »Ich wusste, dass mir nur eine gewisse Zeit mit ihm bleiben würde, bis sein Herz aufhören würde zu schlagen. Doch jetzt stellt sich mir die Frage, ob er überhaupt ein Herz besitzt.«
Heute loderte ein gefährliches Feuer in ihren eisblauen Augen. »Ich war für Besseres bestimmt als dies hier.« Bei jedem ihrer Schritte schwangen die Pelze, die ihre Schultern in verschwenderischer Pracht bedeckten, hin und her. Die Röcke ihrer scharlachroten Robe raschelten; ein angenehmer Klang, den er stets mit ihr in Verbindung brachte. »So wie auch du, mein Prinz.«
Sie nannte ihn »Prinz«, obwohl Lothaire keiner war. Zumindest nicht in diesem Königreich. Er war nur Stefanowitschs Bastard, einer in einer langen Reihe von Bastarden.
Sie folgten den beiden Wachen über gewundene Treppen bis zu den Privatgemächern des Königs hinauf. Die Wände waren vergoldet und feucht vor Kälte. Vor den Mauern der Burg tobte ein Schneesturm.
Wandleuchter erhellten den Weg, doch nichts vermochte die Düsternis dieser widerhallenden Gänge zu erhellen.
Lothaire erschauderte. Er sehnte sich in sein warmes Bett zurück, wo sein neuer Welpe auf seinen Beinen liegen und sie gemeinsam dösen könnten.
Sobald sie das Vorzimmer von Stefanowitschs Gemächern erreicht hatten und die Wachen die ächzenden goldenen Türen öffneten, strich sich Iwana noch einmal über ihre kunstreich geflochtenen weißblonden Zöpfe und hob das Kinn. Nicht zum ersten Mal dachte Lothaire, dass sie wie ein Engel aus uralten Zeiten aussah.
In Stefanowitschs Gemach nahm ein gewaltiges Fenster die gesamte hintere Wand ein, das mit Symbolen der dunklen Künste verziert war. Das Glas hielt das schwache Sonnenlicht ab, das noch durch den Sturm hindurchdrang, und bildete einen Furcht einflößenden Hintergrund für den Thron des Königs.
Dabei benötigte der hoch aufragende Vampir keinerlei Effekthascherei, um Furcht einflößend zu wirken. Sein Körperbau entsprach eher dem eines Dämons, seine Schultern waren breiter als Dachbalken, seine Fäuste groß wie Ambosse.
»Ah. Iwana Dakiano lässt sich dazu herab, meinem Ruf zu folgen«, rief Stefanowitsch vom oberen Ende seines langen Esstisches. Mit jeder Nacht schienen seine Augen ein noch tieferes Rot anzunehmen. Das karminrote Glühen bot einen starken Kontrast zu seinem sandfarbenen Haar, das ihm in die Stirn fiel.
In seiner Gesellschaft saß ein Dutzend Höflinge, die Iwana mit unverhohlenem Groll anstarrten. Sie wiederum zog die Lippen zurück, sodass ihre Fänge aufblitzten. Sie machte kein Geheimnis daraus, dass sie diese Schleimer für unter ihrer Würde hielt.
Zur Linken des Königs saß Lothaires Onkel Fjodor, der verlegen zu sein schien.
Lothaire folgte Iwanas Blick zu dem Sitz an Stefanowitschs rechter Seite – einem Ehrenplatz, der gewöhnlich für sie reserviert war. Der Tisch davor war mit Tellern übersät, auf denen die Überreste einer Mahlzeit lagen.
Gelegentlich nahmen junge Vampire Nahrung der Erde zu sich – zusätzlich zum Blut. Vielleicht war ein anderer von Stefanowitschs Bastarden nach Helvita
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