Ein Weihnachtswunder zum Verlieben - Roman
muss, als Kopfsteinpflaster und Pferde und Kutschen das Stadtbild bestimmten. Und während ich mir noch in allen Farben ausmale, wie ich in viktorianischer Garderobe ausgesehen hätte, biege ich auch schon ab in die New Cavendish Street und dann in die Great Titchfield Street, vorbei an unbeleuchteten Pubs und Restaurants, und dann schwenke ich schwungvoll in eine kleinere Straße und bremse und komme schliddernd vor dem Kaufhaus zum Stehen: Hardy’s – dem Ort, der seit zwei Jahren meine zweite Heimat geworden ist und wo heute endlich all meine Karriereträume wahr werden.
Zweites Kapitel
H ardy’s liegt elegant an einer Ecke, an der sich zwei Straßen treffen, einen Katzensprung nördlich (oder, wie manche Leute behaupten, auf »der falschen Seite«) der Regent Street. Auf der anderen Seite liegt Soho mit seinen unzähligen berühmten Theatern, den legendären Restaurants und den coolen angesagten Bars. Aber wir hier in »Noho« sind ein bisschen wie die weniger berühmte, aber viel hübschere Verwandtschaft von Soho. Offiziell liegt Hardy’s im Stadtteil Fitzrovia und damit für die Menschenmassen, die tagtäglich zu den großen Geschäften in der Regent und Oxford Street pilgern, viel zu weit ab vom Schuss. Die allermeisten Touristen haben keinen Schimmer, dass es uns überhaupt gibt, und die Londoner besuchen lieber einen schicken Selfridges, einen altmodischen Liberty oder einfach einen praktischen John Lewis, als eigens den weiten Weg hierher zu wagen.
Das kleine, aber perfekt ausgelegte Kaufhaus reckt sich vor mir in die Höhe wie ein Aufklappbild aus einem weihnachtlichen Kinderbuch. Ich lehne mich im Sattel zurück und schaue liebevoll an der Fassade hoch, noch etwas außer Atem von meinem ungewohnten Sprint hierher. Normalerweise habe ich es nicht so eilig, zur Arbeit zu kommen, aber heute ist alles anders: Um Punkt neun Uhr findet die große Ankündigung statt. Sharon, unsere Personalchefin, ist letzte Woche ins Warenlager gekommen und hat mir im Vertrauen erzählt, sie wollten jemand zur stellvertretenden Verkaufsleiterin befördern. Sie meinte, sie hättenjemanden im Auge, der schon seit geraumer Zeit für das Unternehmen arbeite (Hallo! Zwei Jahre!), der die Ware in- und auswendig kenne (ich bin ja auch bloß für das gesamte Waren lager zuständig) und ebenso die Kunden (unsere Stammkunden kenne ich aus dem Effeff). Dann sagte sie, sie wollten jemanden, dem der Laden wirklich am Herzen liegt. Und wenn das nicht mal der Wink mit dem Zaunpfahl war, dann weiß ich es auch nicht. Es gibt nichts, was ich nicht über Hardy’s weiß. Und Sharon weiß, wie gerne ich im Verkauf wäre, in Kontakt mit den Kunden, mittendrin, als Teil des großen Ganzen.
Das Kaufhaus selbst hat schon bessere Zeiten erlebt, heutzutage haben wir kaum noch Kunden, und unser Sortiment würde auch in ein Museum passen, aber trotzdem liebe ich den alten Kasten. Darum war ich auch ganz aus dem Häuschen, als ich hier vor zwei Jahren einen Job ergattert habe – wenn auch nur im Warenlager. Damals dachte ich, das sei nur eine kleine Zwischenstation, bis jemand mein Potential erkennt und mich in den Verkauf befördert. Aber darauf habe ich bisher vergeblich gewartet. Zumindest bis heute …
Ich werfe einen Blick auf die Uhr an der Kaufhausfassade. Es ist gerade erst halb sieben. Ich schließe mein Fahrrad auf dem Stellplatz ab und kann den Blick einfach nicht von der Fassade mit den warmen Sandsteinziegeln wenden. Hardy’s ist in einem wunderschönen vierstöckigen Gebäude untergebracht. Im modernen Erdgeschoss finden sich große Schaufenster, darüber reihen sich entlang der ersten Etage traumhaft schöne, geschwungene Barockfenster wie ein Dutzend wachsamer Augen, die auf die Straße hinunterschauen. Die schmalen rechteckigen Fenster im nächsten Stock scheinen wie lange Wimpern, die nur darauf warten, den vorbeiflanierenden Passanten neckisch zuzuzwinkern. Die Silhouette des Daches wird beherrscht von reich verzierten Balkonen mit Säulen und einem mittig platzierten Turm mit Kuppeldach,das nun mit einer dünnen Schneeschicht bedeckt ist. Vorne an diesem Turm ist eine Uhr, die den vorbeigehenden Londonern schon seit hundert Jahren die Zeit anzeigt. Aber als ich jetzt so zu ihr hinaufschaue, scheinen die Zeiger vollkommen stillzustehen, als sei die Zeit selbst eingefroren und erstarrt. Sogar die Fenster scheinen mich mit leerem Blick anzuglotzen. Fast ist es, als sei das ganze Haus in einen tiefen Dornröschenschlaf
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