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Eine dunkle & grimmige Geschichte

Eine dunkle & grimmige Geschichte

Titel: Eine dunkle & grimmige Geschichte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Gidwitz
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Menschenfleisch!«
    Gretel sah nach oben. Dort oben, ganz, ganz nahe war der Mond. Seine Augen waren kalt und glänzten wie Diamanten. Seine weißen Lippen waren leicht geöffnet und in seinem Mund saßen scharfe, elfenbeinfarbene Zähne. Er beobachtete Gretel, als der Drache immer höher stieg.
    »Oh nein«, murmelte Gretel.
    Schnapp! Der kalte Atem des Mondes ließ den Schweiß auf Gretels Nacken gefrieren. Auch der Drache fühlte den kalten Hauch und drehte sich um. Der Mond schnappte ein zweites Mal. Der Drache drehte sich. Doch der Mond wollte nichts von dem Drachen. Der Mond hatte keine Angst vor ihm. Der Mond hatte vor gar nichts Angst, außer vor der Sonne, und das auch nur, weil die Sonne ihm manchmal Spottnamen gab und ihm das überhaupt nicht gefiel. Normalerweise also ließ der Mond einen Drachen in Frieden. Aber man sieht nicht häufig einen Drachen mit einem Kind auf dem Rücken. Und der Mond ließ selten eine Gelegenheit aus, zartes, saftiges Kinderfleisch zu probieren.
    Der Drache wich aus und der Mond knirschte mit den Zähnen.
    Drehung.
    Schnapp.
    Drehung.
    Schnapp.
    Drehung.
    Schnapp.
    Gretel zog an ihrem Gürtel. Vom Mond wollte sie noch viel weniger gegessen werden als von dem Drachen. Als der Drache wieder auswich und der Mond wieder zuschnappen wollte, da stieß sie ihren Dolch so fest sie konnte in den Nacken des Drachen. Er durchdrang die Schuppen nicht. Aber der Drache drehte sich überrascht ihr und damit auch dem schnappenden Mond zu.
    Er schrie auf.
    Gretel segelte durch die Luft. Sie war über und über mit schwarzem Drachenblut bedeckt. Am Himmel brüllte der Drache seinen furchtbaren Schrei und wand sich hin und her. Ein wenig über ihm versuchte der Mond das ekelhaft schmeckende Drachenfleisch auszuspucken und verfluchte sich dafür, dass er Gretels saftiges Fleisch verfehlt hatte. Sie erhaschte einen Blick auf die beiden, während sie fiel und fiel und in der Dunkelheit verschwand.
    Gretel würde gleich tot sein. Das war klar. Sie war Tausende von Metern hoch in den Lüften gewesen. Höher, als die Raben fliegen konnten. Schon bald würde sie auf dem Boden aufschlagen, ihre Knochen würden in Hunderte von Splittern zerspringen, ihr Schädel würde zerschellen und ihr Gehirn herausplatzen, und ihr Herz würde aufhören zu klopfen. Oder sie würde auf einem spitzen Ast landen und aufgespießt werden wie ein Stück Fleisch. Im Fallen wurde sie immer schneller. Die Luft wurde langsam ein wenig wärmer. Sie konnte die Sterne blinken sehen.
    Dann traf sie auf einen weichen Untergrund. Sie rollte davon herunter und fiel weiter. Dann spürte sie ein weiteres weiches Etwas und rollte auch davon herunter. Dann traf sie auf noch einem weichen Ding auf und rollte auch von ihm herunter und auf die Äste eines Baumes. Sie fiel den ganzen Baum hinunter und traf im Fallen jeden einzelnen Ast. Und dann landete sie auf dem Boden. Sie war nicht tot.
    Sie setzte sich auf und sah sich um. An ihr hingen überall schwarze Federn. Sie hörte ein Flattern und sah drei zerrupfte schwarze Raben, die den Großteil ihres Gefieders verloren hatten und sich auf einen Ast niederließen.
    »Puh«, sagte der erste Rabe.
    »Puh«, sagte der zweite Rabe.
    »Puh«, sagte der dritte Rabe.
    »Das hat wehgetan«, sagten sie alle gleichzeitig.
    »Ihr habt mir das Leben gerettet!«
    »Nicht absichtlich«, sagte der dritte Rabe.
    »Du bist auf uns gefallen«, sagte der zweite Rabe.
    »Natürlich wussten wir, dass das passieren würde«, sagte der erste Rabe. »Wir wussten nur nicht, dass es so wehtun würde.«
    Plötzlich sprang Gretel auf und rannte in den Wald hinein.
    »Keine Manieren!«, rief der dritte Rabe.
    »Wir haben ihr das Leben gerettet, und sie läuft einfach weg, ohne Danke zu sagen«, beschwerte sich der zweite Rabe.
    »Sie sucht ihren Bruder«, sagte der erste Rabe.
    »Oh klar«, sagte der zweite Rabe.
    »Wir wussten das natürlich«, sagte der dritte Rabe.
    Gretel rannte durch den Wald, Äste streiften ihr Gesicht, Wurzeln zerrten an ihren Knöcheln.
    »Hänsel!«, rief sie. »Hänsel!« Der gruselige, kinderfressende Mond schien durch die Blätter der Bäume. Sie rannte im Mondschein.
    Vor ihr im Schatten eines kleinen Kiefernbäumchens lag ein Körper. Er hatte das Gesicht dem Boden zugewandt. Gretel verlangsamte ihre Schritte und ging zu ihm. Sie drehte ihn herum und sah schnell weg. Es war nicht Hänsel. Es war ein Soldat, der eine klaffende Wunde quer über seiner Brust hatte und nur noch ein halbes

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