Eine dunkle & grimmige Geschichte
bei dem Baum ankam, war er sichtlich verwirrt. Er schien zu ahnen, dass Gretel sich in der Krone versteckte, konnte sie aber nicht sehen. Als er sie auf der anderen Seite des Stammes entdeckte, war sie schon vierzig Meter über dem Boden.
Der Drache folgte ihr. Er versuchte, seine Flügel zu benutzen, aber sie verfingen sich in den Zweigen. Er versuchte zu klettern, aber die Äste waren zu dünn, sie zerbrachen und fielen zu Boden, als er auf sie stieg. Und sokrallte der Drache seine Krallen in das weiche Holz und sprang den Stamm hinauf. Dabei zersplitterten die Äste um ihn herum.
Die Nadeln der Kiefer zerkratzten Gretels Gesicht, als sie den Baum hinaufkletterte, und das Harz klebte an ihren Handflächen. Ihr Herz klopfte vor Anstrengung und Angst, aber sie durfte sich keine Pause gönnen. Der Drache kam immer näher. Er war schnell. Ab und zu rutschte er ein Stückchen hinab und glitt dabei an den Ästen vorbei, die er zuvor abgebrochen hatte, doch dadurch gewann Gretel höchstens ein paar Sekunden Zeit. Ihre Hand streckte sich nach dem nächsten Ast aus und sie zog sich weiter hinauf. Ihre Füße fanden festen Halt, und sie schaffte es, wieder einen Ast höher zu klettern. Weiter , befahl sie sich selber. Weiter . Und dann dachte sie: Aber wohin? Sie sah nach oben in der Hoffnung, dass die Äste am Wipfel vielleicht zu dünn für den Drachen seien. Vielleicht war das so. Aber der Wipfel der Kiefer war hoch über den Wipfeln der anderen Waldbäume. Dort oben konnte der Drache seine Flügel wieder besser benutzen. Kletter einfach weiter , sagte sie zu sich selbst. Sie griff nach dem nächsten Ast.
»He – entschuldige mal!«, sagte eine Stimme.
Gretel ließ los und wäre fast vom Baum gefallen. Sie griff mit der anderen Hand zum Stamm und hielt sich so fest sie konnte. Schließlich ging es um ihr Leben.
»Also wirklich, so etwas würde ich nie tun!«, sagte die Stimme. »Leute gibt’s!«
Gretel sah nach oben. Über ihr war ein großes Gewirr aus Nadeln und Ästen.
»Na«, sagte eine andere Stimme, »schau mal nach, wer es ist!«
Und dann lugte über ihr ein schwarzer Kopf mit schwarzen Augen und einem schwarzen Schnabel hervor.
»Ich glaube es nicht!«, sagte der erste Rabe. »Wenn das nicht Gretel ist!«
»Nein! Was macht sie denn hier?«, fragte der zweite Rabe.
»Sag ihr, sie soll mehr Respekt vor dem Nest eines Raben haben!«, krächzte der dritte. »Hat sie keine Manieren? Wurde sie von Affen großgezogen?«
»Ich dachte, sie wurde von einem König und einer Königin großgezogen«, sagte der zweite Rabe.
Die drei Raben? Waren sie wirklich in genau diesem Baum? Gretel konnte es kaum glauben. Wenn ihr in letzter Zeit nicht so viele seltsame Dinge passiert wären, dann hätte sie es tatsächlich nicht für möglich gehalten. Aber nachdem sie ein Haus gegessen und zu den Sternen gesprochen hatte, kam es ihr gar nicht besonders seltsam vor.
»Bitte!«, sagte sie. »Helft mir!«
Das Geräusch von splitterndem Holz war zu hören. Sie sah nach unten. Der Drache war wieder den halben Stamm nach unten gerutscht. »Bitte! Der Drache ist hinter mir her!«
»Dir helfen?«, fragte der dritte Rabe. »Nachdem du so mit unserem Nest umgegangen bist?«
»Ist gar nicht so schlimm«, beschwichtigte der zweite Rabe.
»Und wer bringt unser Nest wieder in Ordnung?«, fragte der dritte Rabe gereizt. »Du sicher nicht!«
»Sei nicht so wehleidig. Ich habe es auch schwer, aber ich beklage mich nicht – selbst wenn es wenig zu essen gibt und wenn es haarig ist«, sagte der zweite Rabe.
»Genau«, antworteten die beiden anderen Raben einstimmig.
Unter ihnen kam der Drache näher und näher.
»Bitte!«, schrie Gretel.
»Wir können dir nicht helfen«, sagte der erste Rabe.
»Ja«, sagte der zweite. »Das steht nicht in unserer Macht.«
Gretel sah nach unten. Der Drache kletterte schnell. Sie hatte keine Zeit mehr, um zu betteln. »Dann haut ab!«, rief sie und hielt sich an dem Ast mit dem Rabennest fest, stemmte sich nach oben und hätte beinahe mit ihrem Fuß das Nest zerdrückt.
»Vorsicht!«, krächzte der dritte Rabe.
Gretel zog sich weiter hoch und versuchte möglichst viel Raum zwischen sich und den Drachen zu bringen. Der erste Rabe flatterte zu ihr hoch. »Es tut mir leid, dass meine Kollegen so unfreundlich waren«, sagte er. »Wir verstehen, wie schwer deine Situation ist.«
Gretel wurde wütend. »Helft ihr mir oder nicht?«, brüllte sie.
»Leider können wir dir nicht helfen«, sagte der
Weitere Kostenlose Bücher