Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine dunkle & grimmige Geschichte

Eine dunkle & grimmige Geschichte

Titel: Eine dunkle & grimmige Geschichte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Gidwitz
Vom Netzwerk:
verfaulte Stumpen vollkommen zahnlos. Aber trotz seiner grotesken Erscheinung lächelte der alte König, als er ihn sah, drückte ihn an seine Brust und rief: »Ah, Johannes!«
    Die Stimme des Königs war schwach, als er sagte: »Ich werde bald sterben. Aber bevor ich gehe, musst du mir zwei Dinge versprechen. Erstens, dass du meinem jungen Sohn so treu dienst, wie du mir gedient hast.«
    Ohne zu zögern, versprach es Johannes.
    Der alte König fuhr fort. »Als Zweites versprich mir, dass du ihm sein ganzes Erbe zeigst – das Schloss, die Schätze, all die schönen Ländereien. Nur eins darfst du ihm nicht zeigen. Führe ihn auf keinen Fall in den Raum mit dem Porträt der Goldenen Prinzessin. Denn wenn er das Bild sieht, wird er sich unsterblich in sie verlieben. Und ich fürchte, das würde ihn sein Leben kosten.«
    Der König umklammerte Johannes’ Hand. »Versprich es mir.«
    Johannes versprach es. Daraufhin glätteten sich die Sorgenfalten auf der Stirn des Königs. Er schloss die Augen und hauchte seinen allerletzten Atemzug aus.
    Schon bald wurde der Prinz zum neuen König gekrönt. Zu seinen Ehren gab es Paraden, Trinksprüche wurden ihm gewidmet und Festgelage im ganzen Königreich abgehalten. Als die Feierlichkeiten vorbei waren, setzte sich Johannes mit dem jungen König zusammen und erklärte ihm seine Pflichten. Der junge König schlief vor Langeweile beinahe ein. Dann erzählte Johannes von dem letzten Wunsch des alten Königs. Er solle ihm sein gesamtes Erbe zeigen – das Schloss, die Schätze, all die schönen Ländereien. Bei dem Wort »Schätze« hellte sich das Gesicht des jungen Königs auf. Nicht weil er habgierig war, er fand die Idee eines Schatzes nur aufregend.
    Schließlich versuchte Johannes, dem jungen König seine eigene Stellung zu erklären. »Ich habe Eurem Vater, dem Vater Eures Vaters und dem Vater des Vaters Eures Vaters gedient«, sagte Johannes. Der junge König rechnete an seinen Fingern nach. Aber bevor er allzu weit kam, fuhr Johannes schon fort: »Sie nannten mich den treuen Johannes, weil ich mein Leben den Königen von Grimm gewidmet habe. Ich berate sie und stehe ihnen bei.«
    »Du stehst bei ihnen?«, fragte der junge König verwundert.
    »Nein, ich stehe ihnen bei. Im alten Sinn des Wortes. Ich unterstütze sie, kümmere mich um ihre Sorgen und Ängste.«
    Der junge König dachte darüber nach. »So wirst du auch mir beistehen?«, fragte er.
    »Das werde ich.«
    »Was auch passiert?«
    »Immer. Das ist die Bedeutung des Wortes treu.«
    »Dann stehe mir jetzt bei und lindere meine Langeweile. Ich will sofort die Schätze sehen.«
    Mit diesen Worten stand der junge König auf.
    Der treue Johannes schüttelte den Kopf und seufzte.
    Sie erforschten jeden Zentimeter des Schlosses, die reich geschmückten Grabgewölbe, die Türme und jeden einzelnen Raum – außer einem. Dieser eine Raum blieb verschlossen, egal wie oft sie an ihm vorbeigingen.
    Der junge König war kein Dummkopf. Er bemerkte es und fragte: »Johannes, warum zeigst du mir jeden einzelnen Raum im Palast, aber nie diesen?«
    Johannes kniff sein gesundes Auge zusammen und verzog seinen faltigen, fast zahnlosen Mund. »Euer Vater hat mich gebeten, Euch diesen Raum nicht zu zeigen, Hoheit. Er hatte Angst, es könnte Euch das Leben kosten.«
    Ich muss kurz unterbrechen. Ich weiß nicht, was ihr jetzt gerade denkt, aber als ich diesen Teil der Geschichte zum ersten Mal hörte, dachte ich: »Was, ist der verrückt?«
    Ich war selber einmal jung, und eines weiß ich sicher: Will man einen Jugendlichen daran hindern, etwas zu tun – etwa einen Raum mit dem Porträt einer unglaublich schönen Prinzessin zu betreten –, dann ist es eine ganz miserable Idee zu sagen, das sei lebensgefährlich. Denn dann will er es umso mehr.
    Warum hat Johannes nicht einfach etwas anderes gesagt? Zum Beispiel: »Es ist eine Besenkammer. Ihr wollt doch nicht eine Besenkammer besichtigen?« Oder: »Die Tür ist nicht echt. Nur Dekoration.« Oder: »Das ist die Damentoilette, Hoheit. Schaut da besser nicht rein.«
    Alle diese Notlügen wären höchstwahrscheinlich erfolgreich gewesen. Aber nein, er sagte nichts dergleichen. Ein einfacher Satz hätte all die darauf folgenden schrecklichen, blutigen Ereignisse verhindern können.
    (Na ja, so gesehen bin ich eigentlich ganz froh, dass er die Wahrheit gesagt hat).
    »Mein Leben kosten?!«, rief der junge Mann und schüttelte ungläubig den Kopf. »Unsinn!« Er wollte unbedingt den Raum

Weitere Kostenlose Bücher