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Eine Ehe in Briefen

Eine Ehe in Briefen

Titel: Eine Ehe in Briefen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofja Tolstaja , Lew Tolstoj
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zu Dir und mein Urteil Deines Lebens darzulegen. Meine Beziehung zu Dir und mein Urteil Deines Lebens sind folgende: Wie ich Dich von Jugend an liebte, so liebte ich Dich immerwährend, ungeachtet der verschiedenen Ursachen für eine Abkühlung meiner Gefühle, und liebe Dich noch. Die Ursachen dieser Abkühlung waren (ohne vom Ende unserer ehelichen Beziehungen zu sprechen, denn damit wurde nur ein trügerischer Ausdruck der wahren Liebe beseitigt): Erstens, meine immer stärkere Abkehr von den Interessen des weltlichen Lebens und mein Ekel vor ihnen, während Du Dich davon weder losreißen wolltest noch konntest, da Deiner Seele jene Voraussetzungen fehlten, die mich zu meinen Überzeugungen gebracht haben, was nur sehr natürlich ist und ich Dir nicht vorwerfe. Dies ist das erste. Zweitens (verzeih mir, wenn das, was ich sage, Dir unangenehm sein sollte, doch was sich im Moment zwischen uns vollzieht, ist derart wichtig, daß man nicht fürchten darf, die ganze Wahrheit auszusprechen und anzuhören) wurdest Du in den letzten Jahren immer gereizter, despotischer und unnachgiebiger. Die Entwicklung dieser Charakterzüge mußte zu einer Abkühlung, nicht des eigentlichen Gefühls, aber seiner Äußerungen, führen. Dies ist das zweite. Drittens. Die wichtigste und verhängnisvollste Ursache – an der weder Du noch ich die Schuld tragen – ist unsere gänzlich entgegengesetzte Auffassung vom Sinn und Ziel des Lebens. Alles in unserer Auffassung vom Leben war entgegengesetzt: die Lebensweise, die Einstellung zu den Menschen und die Mittel zum Leben – das Eigentum, das ich als Sünde ansehe, Du aber als notwendige Voraussetzung zum Leben. Ich unterwarf mich, um mich nicht von Dir trennen zumüssen, in meiner Lebensweise den für mich schweren Lebensbedingungen, Du aber hast dies als Annäherung an Deine Ansichten gedeutet, und so wurde die Entfremdung zwischen uns größer und größer. [...] Doch ich habe ungeachtet aller Mißverständnisse, die es zwischen uns gab, nicht aufgehört, Dich zu lieben und zu respektieren.
    Meine Beurteilung Deines Lebens mit mir ist folgende: Ich, ein sittlich verdorbener und sexuell zutiefst lasterhafter Mensch, habe, als ich schon nicht mehr der Jüngste war, Dich, ein reines, gutes, kluges, achtzehnjähriges Mädchen geheiratet, und Du hast, ungeachtet meiner schmutzigen, lasterhaften Vergangenheit, fast fünfzig Jahre mit mir zusammengelebt, mich geliebt und ein arbeitsames und schwieriges Leben gehabt, indem Du Kinder gebarst, sie stilltest, erzogst, für die Kinder und mich sorgtest und Dich nicht anderen Versuchungen hingabst, die jede gesunde, kräftige und schöne Frau in Deiner Lage so leicht hätten ergreifen können. Du lebtest so, daß ich Dir nichts vorzuwerfen habe. Daß Du mir auf meinem besonderen geistigen Weg nicht gefolgt bist, kann ich Dir nicht vorwerfen, und werfe ich Dir nicht vor, denn der geistige Weg eines jeden Menschen ist einzigartig vor Gott, und von einem anderen zu fordern, den selben Weg zu gehen, den man selbst geht, ist unmöglich. Wenn ich dies von Dir forderte, so war dies ein Fehler, und ich habe mich schuldig gemacht.
    [...]
    Dies also war 3) dazu, was Dich in Bezug auf die Tagebücher beunruhigen könnte, aber nicht beunruhigen muß.
    4) Sollte Dir zum jetzigen Zeitpunkt meine Verbindung zu Tsch[ertkow] unerträglich sein, so bin ich bereit, ihn nicht mehr zu sehen, doch ich muß sagen, daß dies für ihn schlimmer wäre als für mich selbst. Wenn Du dies also möchtest, so bin ich bereit, dies zu tun.
    Und wenn Du schließlich 5) meine Bedingungen eines guten, friedlichen Zusammenlebens nicht annimmst, ziehe ich meinVersprechen, Dich nicht zu verlassen, zurück. Dann gehe ich fort. [...]
    Ich könnte weiterhin so leben, wenn ich Dein Leiden ruhig mit ansehen könnte, doch ich kann es nicht. [...] Denke ruhig nach, liebste Freundin, höre auf Dein Herz und Dein Gefühl, und Du wirst entscheiden, wie entschieden werden muß. Ich meinerseits muß sagen, daß ich alles so entschieden habe, daß ich es anders nicht kann, nicht kann. Hör auf, Liebste, nicht die anderen, sondern Dich selbst zu quälen, Dich selbst, denn Du leidest mehr als alle anderen. Dies ist alles.
    Lew Tolstoi.
    14. Juli, morgens.
    1910.
    [Sofja Andrejewna Tolstaja an Lew Nikolajewitsch Tolstoj]
    15. Juli 1910
    Auf Jasnaja Poljana
    Ljowotschka, Lieber, ich schreibe Dir und spreche nicht aus, was ich zu sagen habe, denn nach einer schlaflosen Nacht fällt mir das Sprechen

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