Eine eigene Frau
Großvater hatte mir erzählt, dass der Schiefer auch als Schleifstein benutzt wurde und dass man irgendwo in Finnland Abziehsteine zum Verkauf an Schreiner und Köche hergestellt habe, mit denen sie die Schneiden ihrer Messer und anderer Werkzeuge schärfen konnten. Ich hatte nicht vor, aus dem Stein Schleifgerät herzustellen, aber ich wollte ihn als Baumaterial benutzen. Der Grundbesitzer, der alte Tammisto, hatte mir erlaubt, so viele Steine zu nehmen, wie ich mit Handwerkzeug losbekäme. Eine Entschädigung verlangte er nicht. Wahrscheinlich war das seine Art, mir dafür zu danken, dass ich ihm die Gerichtsprotokolle des Hochverratsverfahrens gegen seinen Onkel Joel Tammisto beschafft hatte. Ich hatte sie im Nationalarchiv entdeckt, als ich mir dort Dokumente über die Ortschaft Halikko während des Bürgerkriegs ansah. Trotzdem nahm ich mir vor, dem Grundbesitzer bei meinem nächsten Besuch in dem Altersheim in Salo, in dem er inzwischen wohnte, eine Flasche Kognak mitzubringen.
Ich ging die abschüssige Kruste des Steinbruchs hinunter bis an die Stelle, wo zuletzt Muttergestein abgebaut worden war. Auf einer Fläche von zwei Quadratmetern trug ich mit dem Spaten, den ich mitgebracht hatte, Oberflächenerde ab und stieß das Spatenblatt in eine Spalte des schiefrigen Felsens. Eine Schieferplatte von einem halben Quadratmeter bewegte sich, als ich den Griff des Spatens nach unten drückte. Nun glaubte ich tatsächlich, das Steinmaterial, das ich benötigte, leicht mit einfachem Handwerkzeug lösen zu können. Auf keinen Fall wollte ich Sprengstoff oder auch nur Luftdruckgeräte einsetzen. Hammer und Meißel sollten genügen. Damit hatte man auch vor hundert Jahren, als in diesem Bruch damit begonnen wurde, Phyllit zu gewinnen, die Steine losgeschlagen.
Vor zwei Wochen, Anfang April, bin ich nach Vartsala umgesiedelt, in dieses Dorf am Meer, unmittelbar nachdem mein Sohn mit 21 von zu Hause ausgezogen war. Seine ältere Schwester hat schon vor Jahren geheiratet und wird mich im Juli mit 54 zum Großvater machen. Meiner Frau überließ ich sowohl unser Backsteinhaus als auch den Toyota. Gleichzeitig kündigte ich meinen Job als Marketingleiter der Ofenbauer AG . Ohne einen Mucks akzeptierte der neue Eigentümer meine Entscheidung. Ich war mit der Firma unzufrieden und die Firma mit mir.
Die Situation war eine andere gewesen, als ich beim früheren Besitzer auf der Gehaltsliste gestanden hatte, als verantwortlicher Maurer. Ein Vierteljahrhundert lang hatte ich Öfen gemauert, dann kamen die genormten Feuerstellen aus den Ziegelfabriken, und die fließbandartige Installationsarbeit widerte mich mehr und mehr an. Ich wurde zum Marketingleiter befördert, damit der neue Eigentümer nicht ohne mein »wertvolles Know-how« auskommen musste. Von da an verbrachte ich einen großen Teil meines Arbeitstages mit Papierkram und Besprechungen. Auch andere Dinge in meinem Leben änderten sich: Kleidungsstil, Essgewohnheiten, Trinksitten. Hinzu kamen Seminare und Konferenzen, Flugreisen, das Nippen an Aperitifen mit Berufskollegen und die Rituale des Hotellebens; anfangs hatte das noch seinen Glanz, am Ende war es nur noch öde und unterstrich die Einsamkeit. Meine neue Garderobe oder die Tatsache, dass ich gelernt hatte, das Weinglas am Stiel zu halten, reichten nicht aus, um die Wahrheit zu kaschieren: Wo meine Berufsgenossen aus dem Marketingbereich wie Fische im Wasser um mich herumschwammen, zappelte ich mich ab wie ein Trottel, der nicht schwimmen kann.
Vartsala, das Dorf, in dem meine Großeltern geboren wurden und zu Hause waren, ist eine ehemalige Sägewerkssiedlung und liegt im Innersten der Halikko-Bucht, südlich von Turku, wo die zerklüftete finnische Ostseeküste in den Schärengürtel übergeht. Als Ende des 19. Jahrhunderts die Holzindustrie in Finnland einen starken Aufschwung erlebte, entstanden Sägewerke an solchen Stellen, die von englischen und deutschen Frachtschiffen leicht erreicht werden konnten. Unter den klimatischen Bedingungen des 60. Breitengrades ist das im Verlauf der Jahreszeiten jedoch nicht immer möglich. In normalen Wintern friert das Meer Mitte November zu, und Ende Dezember wird die gesamte Küste des Finnischen Meerbusens von beinahe durchgängig festem Eis eingefasst. Das Treibeis im Schären-Archipel und in den westlichen Abschnitten des Meerbusens erstarrt im Januar oder im Februar und bildet eine geschlossene Eisdecke, die im März ihre größte Ausdehnung besitzt. In den
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