Rachedurst
1
Lombardo’s Steakhouse auf der schicken Upper East Side von Manhattan konnte sich mit Recht zweier Dinge rühmen. Das erste war die Spezialität des Hauses, das doppelt dicke, Arterien verstopfende, fast eineinhalb Kilo schwere Porterhouse-Steak, bei dessen bloßem Anblick ein Veganer einen Schlaganfall bekommen könnte.
Und zweitens war das Lombardo’s berühmt für seine Gäste.
Einfach ausgedrückt, war Lombardo’s Steakhouse das Paradies der Paparazzi. Von angesagten Schauspielern bis zu den Publikumsmagneten unter den Profisportlern, vom Wirtschaftsboss zum Supermodel, vom Rapstar bis zum preisgekrönten Dichter – jeder, der jemand war, ob er gerade ein Geschäft abschloss oder einfach nur göttlich aussah, tauchte irgendwann im Lombardo’s auf.
Der Zagat, die allgegenwärtige rote Bibel der Restaurantbesucher, wusste nur Gutes zu berichten: »Sehen und gesehen werden – in dieser vertrauten Atmosphäre kommt jeder auf seine Kosten.«
Sofern man nicht Bruno Torenzi hieß.
Er war der Mann, der Lombardo’s Steakhouse für etwas ganz anderes berühmt machen sollte. Für etwas Furchtbares, etwas unglaublich Schreckliches.
Und niemand schien ihn zu bemerken … bis es zu spät und die Tat fast vollbracht war.
Natürlich war das die Idee dahinter. In seinem schwarzen Ermenegildo-Zegna-Anzug und mit der dunklen Sonnenbrille
wäre Bruno Torenzi für jemand x-Beliebigen durchgegangen. Für einen Niemand.
Zudem war Mittagszeit. Es war taghell.
Man hätte doch erwartet, dass diese grausige Geschichte irgendwann nachts passiert wäre. Ach, und warum nicht gleich bei Vollmond, begleitet von in der Ferne heulenden Wölfen?
»Kann ich Ihnen helfen, Sir?«, fragte Tiffany, die Empfangsdame, die Torenzi nur wahrnahm, weil es zu ihren Aufgaben gehörte. Sie war jung und betörend blond und stammte aus dem Mittleren Westen. Ihre Haut, die so glatt war wie Porzellan, sorgte dafür, dass sich die Leute reihenweise nach ihr umdrehten.
Doch Torenzi benahm sich, als wäre sie Luft. Er blieb weder stehen, noch würdigte er sie eines Blickes, als sie ihn ansprach, sondern schritt einfach an ihr vorbei.
Scheiß drauf, dachte die beschäftigte Empfangsdame und ließ ihn ziehen. Das Restaurant war voll wie immer, und der Kerl sah aus, als gehörte er hierher. Weitere Gäste trafen ein und bedrängten sie, wie es nur New Yorker draufhatten. Mit Sicherheit traf dieser Kerl hier einen Gast, der bereits Platz genommen hatte.
Damit hatte sie wohl recht.
Geschnatter an den Tischen, klapperndes Besteck, kultiger Jazz, der aus den in die Decke eingelassenen Lautsprechern rieselte – all das verband sich in dem mit Mahagoni vertäfelten Speisesaal des Lombardo’s zu einem durchaus angenehmen Rauschen.
Doch all das hörte Torenzi nicht.
Er war wegen seiner Disziplin, wegen seiner unerschütterlichen Konzentrationsfähigkeit engagiert worden. Seine Gedanken waren nur auf eine Person in dem belebten Restaurant gerichtet. Nur auf eine.
Noch zehn Meter …
Torenzi hatte den Tisch in der Ecke rechts hinten entdeckt. Ohne Zweifel ein spezieller Tisch. Für einen sehr speziellen Gast.
Sieben Meter …
Die Absätze seiner schwarzen Schuhe klapperten auf dem glänzenden Holzboden wie ein Metronom im Dreivierteltakt, als er zwischen den Tischen hindurch seinem Ziel zustrebte.
Drei Meter …
Torenzi richtete seinen Blick auf den kahlköpfigen, übergewichtigen Mann, der, mit dem Rücken zur Wand, allein am Tisch saß. Das Foto, das er erhalten hatte, konnte er getrost in seiner Tasche stecken lassen. Er brauchte es nicht mehr mit dem Mann abzugleichen.
Weil dieser Mann eindeutig derjenige war, den er suchte. Vincent Marcozza.
Der Mann, der nur noch weniger als eine Minute leben würde.
2
Vincent Marcozza – Kampfgewicht von mindestens hundertfünfzig Kilo – blickte von den Resten seines englisch gebratenen Porterhouse-Steaks mit gefüllten Ofenkartoffeln und einer riesigen Menge Zwiebelringe auf. Selbst im Sitzen wirkte der Kerl bedauernswert kurzatmig und einem Herzinfarkt erschreckend nahe.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte Marcozza nur scheinbar höflich. Sein Tonfall, der an den eines Straßenjungen aus Brooklyn erinnerte, hätte eher zu einem »He, Alter, was glotzt’n so? Siehste nich, dass ich am Futtern bin?« gepasst .
Torenzi blieb regungslos stehen und ließ sich gebührend Zeit mit der Antwort, während er den wichtigen Mann vor sich musterte. »Ich habe eine Nachricht von Eddie«, verkündete
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