Eine französische Affäre
sie fertig war, stieß sie einen verhaltenen Schrei aus. »Das ist erstaunlich! Höchst erstaunlich!« rief sie aus. »War dein Bruder nicht sehr überrascht?«
»Allerdings«, erwiderte Canéda, »und ich auch.« Dann sagte sie so ärgerlich, als könnte sie sich nicht länger beherrschen: »Wie können sie es wagen, uns zu schreiben, nur weil Harry den Titel geerbt hat und jetzt von einiger Bedeutung ist! Warum haben sie uns nicht eingeladen, als Mama noch am Leben war? Sie wissen, wie sie war: niemals nachtragend. Sie hätte ihnen verziehen, und es hätte sie so glücklich gemacht.«
»Es ist unmöglich, die Vergangenheit ungeschehen zu machen«, sagte Madame de Goucourt. »Aber wenn es dir gelingt, die Fehde beizulegen, machst du vielleicht wenigstens diese Leute glücklich, bevor sie sterben.«
»Sie glücklich machen?« rief Canéda. »Ich hasse sie, und Harry haßt sie auch! Aber ich habe eine Idee, wie ich sie dazu bringen kann, daß sie in sich gehen und sich dessen schämen, was sie getan haben.«
Madame de Goucourt legte ihre Lorgnette auf den Tisch und sah Canéda verwundert an. »Was sagst du da?« fragte sie.
»Zuerst einmal«, antwortete Canéda, »möchte ich, daß Sie mir sagen, warum sie uns gerade jetzt geschrieben haben, wenn wir einmal davon absehen, daß Harry nun in England ein wichtiger Mann ist.«
Madame de Goucourt zögerte einen Augenblick, aber Canéda meinte nachdrücklich: »Ich möchte die Wahrheit wissen, Madame. Ich spüre, daß etwas dahinter steckt, und ich will wissen, was es ist.«
»Natürlich kann ich es nicht mit Gewißheit sagen«, antwortete Madame de Goucourt nach einem Augenblick der Überlegung, »aber ich habe gehört, daß es an der Dordogne Probleme gibt.«
»Was für Probleme?«
»Zunächst ist die Ernte schlecht gewesen. Meine Freunde haben mir erzählt, daß der Weizen nicht mit dem billigen amerikanischen Weizen, der importiert wird und auf die Preise drückt, mithalten kann.«
Sie machte eine Pause, und Canéda fragte: »Und was noch?«
»Ich habe gehört – allerdings ist es nur ein Gerücht –, daß zahlreiche Weingärten in der Gegend von der Reblaus befallen sind.«
»Von der Reblaus!« rief Canéda aus. Der Reblausbefall war, wie sie wußte, das Schlimmste, was den Reben zustoßen konnte. »Sie meinen also«, sagte sie, »daß der aufgeblasene Graf von Bantôme, mein Großvater, Harrys und meine Hilfe braucht, um seine Enkel in die große Welt einzuführen. Und welche Hilfe haben sie uns gewährt, als wir sie brauchten?«
»Ich kann verstehen, daß du verbittert bist, Canéda«, sagte Madame de Goucourt leise, »und ich weiß, wie sehr deine Mutter darunter litt, daß sie von ihrer Familie abgeschnitten war. Die Familie bedeutet uns Franzosen eine Menge.« Sie machte eine Pause, bevor sie fortfuhr: »Obwohl deine Mutter die glücklichste Frau war, die ich in meinem ganzen Leben kennengelernt habe, denke ich manchmal, daß sie sich mit einem Teil ihres Wesens nach der Nähe ihrer Eltern, ihrer Geschwister, ihrer Nichten und Neffen sehnte, von denen einige etwa im selben Alter wie du sein werden. Die Bantômes sind eine sehr große Familie, und ich glaube, du würdest dich freuen, sie kennenzulernen.«
»Sie werden mich als Racheengel kennenlernen«, antwortete Canéda, »und weil ich vorhabe, als solcher aufzutreten, brauche ich Ihre Hilfe, Madame.«
»Meine Hilfe?« fragte Madame de Goucourt erstaunt.
»Ja«, erwiderte Canéda. »Ich möchte, daß Sie mit mir nach Frankreich kommen.« Sie sah die Augen der Französin aufleuchten und wußte, daß sie ihre Einladung nicht ablehnen würde. Dann fügte sie hinzu: »Ich habe vor, Madame, nicht nur den Bantômes eine Lektion zu erteilen, sondern, wenn möglich, auch dem Herzog von Saumac, und zwar eine, die er sein Leben lang nicht vergessen wird.«
Z WEITES K APITEL
Die weißen Segel vom Wind geschwellt, lief die ›Seemöwe‹ langsam in den Hafen von St.-Nazaire ein.
Canéda stand seit dem Morgengrauen an der Reling. Sie war so erregt, daß es ihr geradezu unmöglich erschienen war zu schlafen. In Folkestone hatte die Jacht des verstorbenen Grafen vor Anker gelegen, stets bereit, ihren Besitzer über den Kanal zu bringen, wenn er es wünschte.
Ihr Onkel hatte die ›Seemöwe‹ erst drei Jahre vor seinem Tod in Dienst gestellt, und deshalb war sie von modernster Bauart. Zu Canédas Freude bot sie reichlich Platz für die zahlreichen Pferde, die sie neben der Reisekutsche dabei hatte.
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