Eine Freundin zum Anbeissen
Daka war es noch schlimmer. Ihr Vater war gar nicht im Spiegel sichtbar. Wie gesagt, Vampirsein hat nicht immer Vorteile.
Auf einmal kam ein dumpfes Geräusch von der Fensterscheibe, als wäre ein Softball davorgeknallt. Daka blickte auf. »Du hast Post.«
Silvania wedelte mit der lackierten Hand, öffnete das Fenster mit der anderen und nahm der Fledermaus, die etwas angeschlagen auf dem Fensterbrett lag, einen Zettel aus den Krallen. Sie gab der Fledermaus eine Motte zum Fressen, die sich im Spinnennetz neben dem Fenster verfangen hatte, und schloss das Fenster wieder. Dann setzte sie sich mit dem Zettel auf ihr Bett.
Daka beobachtete ihre Schwester aus den Augenwinkeln. »Na, was schreibt dein Liebster?«
»Bogdan ist nicht mein Liebster!«, fauchte Silvania zurück. »Und er schreibt nur, dass in Bistrien schönes Wetter ist, dass in der Schule Geschichte ausgefallen ist, dass seine kleine Schwester eine Fliege verschluckt hat und dass ... dass ...«
»Dass er dich ganz furchtbar vermisst!« Daka fasste sich theatralisch ans Herz.
Silvania verschränkte die Arme. »Na und? Ich vermisse ihn aber nicht.«
»Spätestens morgen, wenn dir niemand mehr die Schultasche trägt, dir bei Tierkunde vorsagt und dich beim Wettfliegen gewinnen lässt, wirst du ihn vermissen.«
»Werde ich nicht. Außerdem gibt es morgen keine Tierkunde und kein Wettfliegen mehr. Morgen«, sagte Silvania und atmete tief ein, »fängt ein neues Leben an.«
»Schlotz zoppo! Das hatte ich ganz vergessen. Wir haben ja jetzt nur noch so langweilige Fächer wie Mathe, Deutsch und Geschichte. Und im Sport müssen wir bestimmt solche komischen Sachen machen wie Geräteturnen oder Gymnastik. Wäh!« In Transsilvanien war Daka immer gerne in die Schule gegangen. Sie hatte die Vorahnung, dass sich das in Deutschland ändern würde. Wehmütig dachte sie an die Abschlussparty in Oktavians Gruft zurück. Ihre ganze Klasse war gekommen, sogar ihre Klassenlehrerin kam kurz vorbeigeflogen. Dakas Freestyle-Fly-Verein und Silvanias Saikato-Gruppe waren auch da. Es war das schönste und zugleich traurigste Fest gewesen, das Daka erlebt hatte. Sicher, sie würden in den Ferien nach Bistrien fliegen und alle wiedersehen. Aber es würde nicht dasselbe sein wie dort zu leben.
Silvania ließ sich mit dem Rücken auf ihr Bett fallen. »Ich weiß gar nicht, was du hast. Es ist doch toll: Wir können noch einmal ganz neu anfangen. Wer weiß, was wir für Freunde finden!«
Daka musterte ihre Schwester mit zusammengezogenen Augenbrauen. »Das ist nicht dein Ernst, oder?«
»Doch.«
»Also, ich trainiere lieber fliegen, damit ich bald alleine nach Bistrien zurückfliegen kann.«
»Das ist jetzt aber nicht dein Ernst.«
»Klar. Lange halte ich es hier nicht aus.«
»Ich schon. Und wenn du abhaust – ich finde bestimmt Freunde hier.«
»Du willst echte Menschen als Freunde?«
»Ja. Und ich rate dir eins, Daka: Vermassele es morgen nicht gleich.«
»Ich? Wie kommst du denn darauf?«
Im Fieberwahn
A ls Armin Schenkel am Montagmorgen das Garagentor von Haus Nummer 24 öffnete, fühlte er sich noch etwas schwach auf den Beinen. Die ganze letzte Woche hatte er mit Grippe im Bett gelegen. Doch er war der Meinung, dass die Firma, für die er zusammen mit 2550 weiteren Mitarbeitern arbeitete, nicht länger ohne ihn auskam. Außerdem fühlte er sich dank der Pflege seiner Frau Janina schon besser. Und außerdem kannte er nach einer Woche alle fünf CDs mit Kinderliedern von seinem vierjährigen Sohn Linus auswendig. Es war Zeit, im Büro nach dem Rechten zu sehen.
Armin Schenkel setzte sich in seinen roten Kombi und fuhr rückwärts langsam aus der Garage auf den Lindenweg. Er hatte den rechten Arm um die Lehne des Beifahrersitzes gelegt und sah aufmerksam nach hinten. Im Haus gegenüber ging die Wohnungstür auf, und zwei Mädchen, er schätzte sie auf zwölf oder 13, kamen aus dem Haus. Das mussten die neuen Nachbarn sein. Janina hatte erzählt, dass sie eine Flasche Schnaps vorbeigebracht hatten, und Linus behauptete steif und fest, sie hätten eine riesengroße schwarze Badewanne.
Herr Schenkel nahm die Mädchen nur noch aus den Augenwinkeln wahr, denn er musste sich auf die beiden Pfosten der Ausfahrt konzentrieren. Schließlich wollte er sich keine Rallyestreifen an seinen Kombi machen. Zum Ausfahrtpfosten links war genügend Abstand. Zum Ausfahrtpfosten rechts auch. Die Mädchen hüpften die drei Treppenstufen herunter. Zum Ausfahrtpfosten links war
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