Eine große Zeit
brachten die Fragen immer mehr präzise Details ans Licht. Lysander erlebte, wie dieser Paralleltag, an dem nichts vorgefallen war, sich stufenweise konkretisierte, zur greifbaren Wirklichkeit wurde, die den ursprünglichen katastrophalen Tag mit seinem Rattenschwanz an diffusen Erinnerungen in den Schatten stellte. Der verhängnisvolle Nachmittag verblasste allmählich und verschwand hinter der wachsenden Sammlung von Fakten und Einzelheiten aus der neuen Parallelwelt. Im Lauf der Sitzungen stellte er fest, dass er diese neue Welt viel besser heraufbeschwören konnte als die alte; die fiktiven Erinnerungen nahmen, von seiner fonction fabulatrice angetrieben, Gestalt an, übertrumpften die quälenden Urbilder, ließen sie derart verschwimmen und undeutlich werden, dass er sich mit der Zeit fragte, ob sie nicht bloß vage Reminiszenzen an einen Albtraum waren.
Bald positionierte er seine Mutter nach der Teestunde am Klavier – einem Stutzflügel – und brachte sie dazu, mit ihrem klangvollen Mezzosopran ein Schubertlied zu singen. Von der Musik angelockt, gesellte sich Lord Faulkner zu ihnen und rauchte eine Zigarre; vom Rauch musste Lysander niesen. Lord Faulkner bestellte eine frische Kanne Tee, und zwar Assam, seine Lieblingssorte. Die Tatsache, dass es sich dabei um das Ergebnis einer autosuggestiven Übung handelte, entwertete diese »Erinnerungen« nicht im Geringsten, wie Lysander erkannte. Durch einen reinen Willensakt, Ausdauer und Genauigkeit hatte er seine Parallelwelt so weit gedeihen lassen, dass sie sein Gedächtnis beherrschte, genau, wie Bensimon vorhergesagt hatte, und das häusliche Wohlbehagen an diesem neuen fiktiven Tag sämtliche Eindrücke verdrängte, die ihm solchen Kummer bereitet und unerträgliche Scham ausgelöst hatten.
Als er seinen Panamahut vom Ständer nahm, trat Bensimons strenge, bebrillte Sprechstundenhilfe mit einem Umschlag vor ihn. Wahrscheinlich eine Quittung über die Zahlung vom vergangenen Monat, dachte er.
»Herr Rief«, sagte sie, ohne ihm in die Augen zu sehen. »Das wurde für Sie hinterlegt.«
Lysander nahm den Brief und las ihn auf dem Weg nach unten. Er war von Hettie.
»Komm nächsten Mittwoch um sechs. U fährt nach Zürich. Pack ein paar Sachen ein.«
Lysander spürte eine unbändige Aufregung in sich aufsteigen. Es ging ihm wie einem Jungen, der mitten im Schuljahr beurlaubt wird – dieses Gefühl geschenkter Freiheit, unverhoffter Möglichkeiten. Unterwegs kam er jedoch auf dunklere Gedanken. Sicher konnte er Hettie für seine »Heilung« dankbar sein, aber er durfte nicht außer Acht lassen, dass sie ihn in die Falle gelockt hatte und er arglos hineingetappt war – was sich zwischen ihnen abgespielt hatte, musste zwangsläufig passieren. Das konnte er gerade noch mit seinem Gewissen vereinbaren – es war ein einmaliger Lapsus gewesen, der seine Ehre nur vorübergehend befleckte, ein Augenblick rasender Leidenschaft, den er getrost ad acta legen und vergessen konnte. Niemand wusste davon, niemand war verletzt worden. Doch wenn er Hettie erneut aufsuchen und ein oder zwei Nächte mit ihr verbringen würde, läge der Fall gleich ganz anders. Wollte er seine Verlobung, seine Beziehung und Zukunft mit Blanche nicht aufs Spiel setzen, musste er Hettie absagen – es durfte sich nicht wiederholen, sonst wäre er verloren, das wusste er.
Am Burgtheater überquerte er den Ring und musste sofort an Udo Hoff und dessen architekturkritische Tirade denken. Und daraus erwuchs wiederum eine gewisse prickelnde Euphorie bei der Vorstellung, Hettie wiederzusehen. Er malte sich aus, wie es wohl wäre, eine ganze Nacht mit ihr in diesem schmalen Bett zu verbringen, dann morgens aufzuwachen, warm und noch schläfrig, Schenkel an Schenkel, sich umzudrehen und nach ihr zu greifen …
In der Pension setzte er sich gleich hin und schrieb an Blanche, um die Verlobung zu lösen. Das war der einzige ehrbare Ausweg, auch wenn die Lügen aus seiner Feder nur so flossen. Er teilte ihr mit, er sei, nachdem er in Wien mehrere Ärzte und Psychoanalytiker konsultiert habe, zur Überzeugung gelangt, dass ihn höchstens eine äußerst aufwendige und langwierige Kur heilen könne. Außerdem sei er in Sorge über das bedenkliche Ausmaß seiner »mentalen Erregung«, und angesichts all dessen habe er das Gefühl, es sei mit »Rücksicht auf Dich, liebste Blanche, dringend geboten, Dich von Deinen Versprechen und Gelöbnissen zu entbinden«. Er bat sie um Verzeihung und Verständnis und
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