Eine große Zeit
entkleidete ihn Hettie, sie nahm ihm die Krawatte ab, zog ihm das Hemd aus, öffnete seinen Gürtel und knöpfte seine Hose auf. Das mache sie gern, erklärte sie und zog sich dann selbst aus. Lysander ließ es geschehen, er fühlte sich dadurch vage an ihr erstes Mal erinnert, an den Tag, als seine Anorgasmie restlos verflogen war.
Am Sonntag nutzte er seinen Aufenthalt in Linz, um eine Cousine seiner Mutter zu besuchen, eine gewisse Hermine Gantz. Seine Mutter hatte ihm die Adresse gegeben, als er den Wunsch äußerte, seine österreichische Verwandtschaft kennenzulernen. Doch als er im Haus in der Bürgerstraße vorstellig wurde und seine Visitenkarte hinterlegen wollte, erfuhr er, dass man dort noch nie von einer Frau Gantz gehört habe. Seine Mutter hatte sich wohl geirrt – immerhin war sie seit über zwanzig Jahren nicht mehr in Österreich gewesen.
Als sie am nächsten Tag ihre Koffer packten, um nach Wien zurückzufahren, sah er Hettie erneut ihre Coca-Lösung herstellen. Eine Vorsichtsmaßnahme, meinte sie, Hoff sei möglicherweise noch verstimmt – ein überaus cholerischer Mann.
Mein geliebter Lysander,
daraus wird nichts. Ich werde Deinen Brief einfach ignorieren. Du sollst nicht an mich denken, sondern an Dich. Sobald Du wieder gesund bist und zu Deinem liebenswürdigen Naturell zurückgefunden hast, wirst Du nach Hause kommen und Deinen Schatz in die Arme schließen. Ich liebe Dich, mein Herz, wie sollte ich überhaupt Deine Frau werden, wenn ich nicht auch in Deinen dunklen Stunden zu Dir stünde? Nein, nein und noch einmal nein! Wir sind füreinander bestimmt, und sosehr ich Dein zartfühlendes und selbstloses Angebot würdige, mich von meinen »Versprechen zu entbinden«, möchte ich davon nie wieder ein Wort hören. Lass Dir Zeit, mein Liebster, alle Zeit, die Du brauchst – drei Monate, sechs Monate, ein ganzes Jahr, wenn es sein muss. Ich werde auf Dich warten. Es heißt, die Wiener Ärzte wären die besten der Welt, und so bin ich sicher, dass Du am richtigen Ort bist, um die richtigen Antworten zu finden. Ich werde Deinen Brief auf der Stelle zerreißen und verbrennen (in London ist es so eisekalt, dass ich schon zum Frühstück ein Feuer anzünde).
Es hat den Brief nie gegeben, Du hast ihn nie geschrieben, ich habe ihn nie gelesen, meine Liebe zu Dir ist so fest und beständig wie der »Felsen von Gibraltar« (Du weißt schon).
Deine Dich aus tiefstem Herzen liebende
Blanche
Das Café Sorgenfrei wurde zu ihrem Briefkasten, ein kleines, dunkles, ziemlich verdrecktes Bohemelokal in einer Gasse beim Hohen Markt. Hoff hatte als Kunststudent dort Hausverbot erteilt bekommen und seither geschworen, nie wieder einen Fuß hineinzusetzen, Hettie zufolge war es darum perfekt geeignet. Sie hinterließ für Lysander Nachrichten hinter der Bar – Orte und Zeiten für mögliche Treffen, sie teilte ihm auch mit, wann er gefahrlos in die Scheune kommen konnte. Lysander antwortete ihr auf demselben Weg. Manchmal schrieb er einfach »Ich muss Dich sehen«, notierte dazu den Namen eines schäbigen Hotels in Bahnhofsnähe oder mit Blick auf den Donaukanal und gab an, er habe dort für den und den Tag im Voraus ein Zimmer gebucht, in der Hoffnung, dass es ihr dann gelingen würde, sich an Ort und Stelle einzufinden. Es gelang ihr jedes Mal, und Lysander machte sich allmählich Sorgen, dass dieses ständige Kommen und Gehen Hoffs Argwohn wecken könnte. Hettie hielt das für ausgeschlossen, er habe immer nur eines im Kopf – sich selbst. Solange er sich durch ihre Abwesenheit nicht gestört fühlte, würde er sich nicht im Geringsten um ihren Verbleib scheren.
Kennst du das Mädchen meiner Träume?
Morgens schmücken sie Perlen aus Tau
Wenn hell das Licht durch Mondnebel bricht
Und die Sterne versinken im Blau.
Oft überstrahlt sie den Sonnenschein,
Der Wind trägt ihr klingend Lied zu mir,
Große Wunder sind ihre Augen,
Ihr Lächeln schöner als ein Saphir.
Sie wird auf ewig die meine sein,
Ich bin ihrem Zauber erlegen.
Du kennst das Mädchen meiner Träume:
Du bist es, Tag und Nacht mein Segen.
Um die Tage zwischen den Treffen mit Hettie auszufüllen, griff Lysander zu Weiterbildungsmaßnahmen. Er konnte seine Zeit ja nicht nur im Café vertrödeln und Liebesgedichte schreiben, und so stellte er sich einen anspruchsvollen Stundenplan zusammen. Er nahm mehr Deutschunterricht bei Herrn Barth und fing nun auch mit französischer Konversation an – sein Französisch war ganz passabel – ,
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