Eine Hand voll Asche
durch die winzige Öffnung zu schicken; beim zweiten Mal nahm ich einen Bleistift und malte winzige Pfeile innen und außen auf die Knochenoberfläche, um die Stelle leichter wiederzufinden. Nachdem ich die Stelle markiert hatte, hielt ich den Knochen noch einmal unter die Lupe und beugte mich vor, um ihn eingehend zu betrachten. Von außen sah die Bruchstelle gut aus: Von einem Stück zum nächsten gingen die Ränder des Knochens an der Klebestelle fast perfekt ineinander über. Doch von innen passte an einer Stelle, die dicht unter der linken Augenbraue gelegen hätte, etwas nicht exakt zusammen.
Einen zertrümmerten Schädel zu rekonstruieren ist so ähnlich wie das Zusammensetzen einer Ming-Vase, die man in einem Wutanfall an den Kaminsims geschleudert hat. Die ersten Stücke passen perfekt zusammen, Zickzacklinien und Wellen passen genau – teils, weil man mit den größten, einfachsten Stücken angefangen hat, aber auch, weil es noch zu früh ist, als dass Unvollkommenheiten und Verzerrungen ihre hässlichen Fratzen zeigten. Ganz allmählich jedoch häufen sich kleinere Unvollkommenheiten, und das Spiel ist aus. Selbst wenn man sich einredet, man könne damit leben, dass man die Risse sieht – sie verleihen der Vase schließlich einen gewissen Charakter und eine Spannung, ähnlich wie Tätowierungen und Narben auf der Haut –, weiß man doch, dass die geklebten Scherben niemals wieder die eleganten Ming-Linien besitzen werden. Ein fehlender Krümel hier oder da verzerrt die Bruchstellen um ein Tausendstel Grad; der Porzellankleber, obwohl er dünn ist wie Wasser und nur wenige Moleküle dick, vergrößert ein rekonstruiertes Dreieck gerade genug, dass es nicht richtig in seine dreieckige Nische passt. Die Ränder und Winkel passen immer weniger zusammen und zwingen einen zu Annäherungen und Kompromissen – genau wie im richtigen Leben.
Das Stück Stirnbein, das ich in der Hand hielt, war aus sieben unregelmäßigen Fragmenten zusammengesetzt, jedes einzelne kleiner als der Nagel meines kleinen Fingers; zusammengeklebt hatten die sieben Stücke etwa die Größe des dicken Endes eines großen Hühnereis. Der Knochen passte in meine Hand – und dann waren rundherum noch gut zweieinhalb Zentimeter meiner Handfläche zu sehen. So klein das Stück auch war, die vielen unregelmäßigen Kanten und Winkel hatten schon angefangen, dagegen zu rebellieren, dass sie wieder zusammengezwungen worden waren. Ich konzentrierte mich ganz auf die Kanten, die ich mit Bleistiftpfeilen markiert hatte, und sah, dass die Bruchline an einer Stelle nicht exakt der benachbarten Bruchlinie entsprach. Jetzt, da ich die Stelle mit zweifelndem Auge betrachtete, entdeckte ich darüber hinaus allmählich auch einen leichten Unterschied im Farbton des verkohlten Knochens auf der Außenseite. Der Unterschied war gering – so gering, dass er fast verschwand, wenn ich direkt daraufschaute, so wie ein matter Stern verschwindet, wenn man den Blick direkt darauf richtet –, doch sobald ich schräg daraufblickte statt direkt von oben, war er wieder da. Eine schwer zu fassende, kapriziöse Wahrheit, die da im forensischen Unterholz saß: Miranda hatte die falschen Stücke zusammengeklebt. Ich schubste die Vergrößerungslampe weg, und sie schwang in einem Halbkreis am Ende ihres mit Sprungfedern versehenen Arms herum, hielt inne und federte noch ein wenig nach. »Verdammt«, sagte ich wütend, und dann noch einmal: »Verdammt«, diesmal leise und traurig. Der wütende Fluch galt der vergeudeten Zeit und den fehlgeleiteten Anstrengungen. Wir hatten mit dem Kopf durch die falsche Wand gewollt, als wir uns abmühten, das Röntgenbild mit einer fehlerhaften Rekonstruktion abzugleichen. Der traurige Fluch galt Miranda, die am Boden zerstört sein würde, wenn sie von ihrem Fehler erfuhr.
Ich dachte ein Weilchen darüber nach. Musste sie wirklich davon erfahren? Musste sie aus ihrem Fehler lernen? Der Lehrer in mir neigte zu der Meinung, dass sie das sollte; weil sie diesen Fehler sonst womöglich eines Tages wieder machte, bei einem Fall, wo ihr kein Mentor über die Schulter schaute und ihn entdeckte und korrigierte. Doch eine andere Stimme in mir schlug vor, ihr mit etwas Nachsicht zu begegnen, nur dieses eine Mal – ich hatte sie zu stark unter Druck gesetzt und zu viel von ihr erwartet und maß sie mit unmöglichen Maßstäben. Die Welt würde nicht untergehen, und Mirandas Fähigkeiten würden sich nicht von selbst zerstören, wenn ich ihr
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