Eine Hand voll Asche
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Im Westen verblasste am Himmel das letzte Tageslicht – es war mehr ein Ersticken als ein Sonnenuntergang, ein letztes mattes Luftschnappen, während der Tag an einem Hitzschlag verschied. Im Osten kämpfte sich ein stumpfer kupferfarbener Mond, gerade eben über den Vollmond hinaus, über den Kamm der Great Smoky Mountains. Von meinem Standpunkt aus, einer hochgelegenen Weide über dem Zusammenfluss von Holston River und French Broad River, den Quellflüssen des Tennessee River, hatte ich einen hervorragenden Blick auf das Dahinscheiden des Tages und die wankende Geburt der Nacht.
Unterhalb des Bergkamms, über dem Fluss auf Dickinson Island, gingen flimmernd die Lichter des Island Home Airport an und zeichneten die Umrisse der Start- und Landebahn in Weiß und Kobaltblau in die Dämmerung. Einige Kilometer flussabwärts schimmerten die Wahrzeichen der Innenstadt von Knoxville: zwei hohe Bürotürme, ein keilförmiges, an die Bauweise der Mayas erinnerndes Marriott-Hotel, die hohen Brücken, die den Fluss überspannten, und der über dem Wasser schwebende Komplex des Baptist Hospital. Dahinter lagen der Campus der University of Knoxville und das Neyland-Stadion, wo die Volunteers bei jedem Spiel hunderttausend Footballfans versammelten. Die Footballsaison begann erst in drei Wochen mit einer Abendpartie, doch auch heute war die Stadionbeleuchtung wegen eines Vorsaisonspiels eingeschaltet. Das Flutlicht schwebte hoch über dem Spielfeld. Mehrere Ausbauten – obere Ränge und Skyboxen – hatten das Stadion immer höher in den Himmel wachsen lassen; noch ein oder zwei solcher Aufbauten, und das Neyland-Stadion war bald der höchste Wolkenkratzer der Stadt. Die Lampen selbst blendeten sehr, selbst auf diese Entfernung, doch ihr Spiegelbild im Wasser war weicher, eher wie Quecksilber, und verwandelte den Tennessee River in eine strahlend schöne, weißglühende Version von Moon River. Es war phänomenal, und ich konnte nicht umhin zu denken, dass das Neyland-Stadion selbst außerhalb der Saison das Tüpfelchen auf dem i von Knoxville war.
Unterhalb des Stadions lag an einem gebogenen Flur, der der Ellipse des Stadions folgte, das Anthropologische Institut der University of Knoxville, das ich in fünfundzwanzig Jahren von einem kleinen Hauptfach im Grundstudium zu einem der führenden Promotionsstudiengänge der Welt ausgebaut hatte. Rund vierhundert Meter lang und einen Raum breit, lag die Anthropologie an der Außenseite des düsteren, fensterlosen Flurs im ersten Stock des Stadions. Zum Glück hatten die Seminarräume, Labore und Büros der Doktoranden Fenster, obwohl der Ausblick ziemlich bizarr und schmutzig war, denn man blickte hauptsächlich auf Träger und Querverstrebungen – das Gerüst, das die hunderttausend trampelnden Footballfans auf den unüberdachten Tribünen trug und verhinderte, dass sie herunterkrachten und zwischen den zahllosen menschlichen Knochen landeten, die unter ihnen in Regalen ruhten.
Viele der Skelette, die im Innern des Neyland-Stadions archiviert wurden, waren über die gerichtsmedizinische Forschungseinrichtung – die Body Farm, drei Morgen bewaldetes Hügelland hinter dem Universitätskrankenhaus – zu uns gelangt. Dort verwandelten sich stets rund hundert menschliche Leichen vom frischen Körper zu nackten Knochen, unterstützt von Legionen von Bakterien und Insekten und gelegentlich einem marodierenden Waschbären, Opossum oder Stinktier. Durch das Studium des Verwesungsprozesses unter einer Vielzahl experimenteller Bedingungen – nackte Leichen, bekleidete Leichen, begrabene Leichen, Wasserleichen, dicke Leichen, dünne Leichen, Leichen in Autos, in Schuppen oder in ein Stück Teppich eingerollt – hatten meine Doktoranden, Kollegen und ich die Body Farm zur weltweit führenden Quelle experimentelle Daten dafür gemacht, was mit Leichen nach dem Tod geschieht und wann es geschieht. Unser Forschungskörper erlaubte uns sozusagen, die Leichenliegezeit mit immer größerer Präzision zu bestimmen. Daher konnten wir, wenn die Polizei uns – egal wann und wo – um Hilfe bei der Aufklärung eines Mordes bat, die Wetterdaten überprüfen, den Grad der Verwesung bestimmen und eine recht genaue Schätzung des Todeszeitpunkts abgeben.
Der heutige Abend würde die wissenschaftliche Literatur um einige weitere Daten und die Sammlung um einige weitere hundert Knochen bereichern. Wir waren viele Meilen weit weg von der Body Farm, doch zwei ihrer Bewohner hatte ich auf diese
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