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Eine Handvoll Dunkelheit

Eine Handvoll Dunkelheit

Titel: Eine Handvoll Dunkelheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip K. Dick
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geschmeckt?“
    „Gut.“
    „Das freut mich.“ Sie lehnte sich in ihrem Sessel zurück. „Nun, was hast du heute in der Schule gemacht? Wie war es?“
    „Ganz gut.“
    Die kleine alte Dame beobachtete, wie sich der Junge ruhelos im Zimmer umsah. „Bernard“, sagte sie schließlich, „möchtest du nicht noch eine Weile hierbleiben und dich mit mir unterhalten?“ Einige Bücher ruhten in seinem Schoß; Schulbücher. „Warum liest du mir nicht aus deinen Büchern vor? Weißt du, ich kann nicht mehr gut sehen, und es ist bequemer für mich, etwas vorgelesen zu bekommen.“
    „Kann ich danach die restlichen Kekse haben?“
    „Natürlich.“
    Bubber rutschte auf der Couch zu ihr hinüber. Er griff nach seinen Büchern – über Geographie, die Lehrsätze der Arithmetik, Grammatik. „Was möchten Sie hören?“
    Sie zögerte. „Etwas über Geographie.“
    Bubber schlug das große blaue Buch auf. PERU. „Peru wird im Norden durch Ecuador und Kolumbien, im Süden durch Chile und im Osten durch Brasilien und Bolivien begrenzt. Peru ist in drei Hauptgebiete unterteilt. Es handelt sich dabei erstens …“
    Die kleine alte Dame sah ihm beim Lesen zu, wie seine Pausbacken wackelten und er mit dem Finger die Zeilen nachfuhr. Sie war still, beobachtete ihn, studierte den Jungen eindringlich beim Lesen, nahm jedes Stirnrunzeln, jede Bewegung seiner Arme und Hände in sich auf. Sie entspannte sich; lehnte sich in dem Sessel zurück. Er war nun sehr nah, saß ganz dicht bei ihr. Nur der Tisch und die Lampe trennten sie noch. Wie schön war es doch, daß er gekommen war; seit über einem Monat besuchte er sie nun, seit dem Tag, an dem sie auf der Veranda gesessen und ihn vorbeigehen sehen und daran gedacht hatte, ihn herbeizurufen. Sie hatte es auch getan und dabei auf die Kekse neben ihrem Schaukelstuhl gedeutet.
    Warum hatte sie das getan? Sie wußte es nicht. Sie war schon so lange allein, daß sie seltsame Dinge sagte und tat. Sie traf nur wenig mit Menschen zusammen, eigentlich nur dann, wenn sie hinunter in den Laden ging oder der Postbote mit ihrer Rentenüberweisung kam. Oder die Müllwerker.
    Die Stimme des Jungen war angenehm, ruhig und entspannend. Die kleine alte Dame schloß die Augen und faltete die Hände in ihrem Schoß. Und während sie so dasaß, dösend und zuhörend, da geschah etwas. Die kleine alte Dame begann sich zu verändern, ihre Falten und Runzeln verschwanden. Während sie in ihrem Sessel saß, wurde sie jünger, und der dünne, zerbrechliche Körper gewann seine Frische zurück. Das graue Haar wurde dichter und dunkler, und die dünnen Strähnen nahmen Farbe an. Auch ihre Arme wurden dicker, und das schlaffe Fleisch wurde wieder glatt und straff, wie es einst, vor vielen Jahren, gewesen war.
    Mrs. Drew atmete tief durch, ohne ihre Augen zu öffnen. Sie fühlte, daß etwas vor sich ging, aber sie wußte noch immer nicht, um was es sich dabei handelte. Etwas geschah; sie fühlte es, und es war gut. Aber was es war, das wußte sie nicht. Es war schon früher geschehen, fast immer, wenn der Junge sie besuchte und sich zu ihr setzte. Vor allem, seit sie ihren Sessel näher an die Couch geschoben hatte. Sie holte tief Luft. Wie gut sich das anfühlte, die warme Fülligkeit, ein Hauch von Wärme in ihrem kalten Körper seit vielen Jahren!
    In ihrem Sessel war aus der kleinen alten Dame eine dunkelhaarige Frau von ungefähr dreißig Jahren geworden, eine Frau mit vollen Wangen und plumpen Armen und Beinen. Ihre Lippen waren wieder rot, ihr Hals war sogar ein wenig zu fleischig, genau wie sie einst in der lang vergessenen Vergangenheit gewesen war.
    Plötzlich hörte Bubber auf zu lesen. Er senkte das Buch und stand auf. „Ich muß gehen“, sagte er. „Kann ich den Rest der Kekse mitnehmen?“
    Sie blinzelte und richtete sich auf. Der Junge war in der Küche und füllte seine Taschen mit den Keksen. Sie nickte benommen, noch immer von dem Zauber erfüllt. Der Junge griff nach den letzten Keksen und schritt durch das Wohnzimmer zur Tür. Mrs. Drew erhob sich. Mit einmal verließ die Wärme sie. Müdigkeit hatte sie übermannt, Müdigkeit und Durst. Sie atmete heftig. Sie sah ihre Hände an. Runzlig und dünn.
    „Oh!“ murmelte sie. Tränen rannen aus ihren Augen. Es war fort, wieder fort, wie immer, wenn er heimging. Sie humpelte zum Spiegel über dem Kaminmantel und sah sich an. Alte, verblichene Augen starrten sie an, Augen, die in den dunklen Höhlen ihres faltigen Gesichts lagen. Fort, alles

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