Eine Hexe in Nevermore
mächtiger Mann – und er hatte ihrer Freundin etwas Schlimmes angetan. Das konnte sie nicht hinnehmen. Auch wenn sie das Versprechen gegenüber Happys Mutter gebrochen hatte – ihr Versprechen Happy gegenüber würde sie halten. Also denk nach, Lucinda. Denk nach!
Doch sie war noch ganz benebelt, ihre Schläfe brannte. Der Kopf tat ihr weh an der Stelle, wo Ren ihr mit der Pistole eins übergezogen hatte. Unfassbar. Sie hatte ihn eigentlich für einen netten Kerl gehalten. Jedermann mochte und vertraute ihm. Doch Ren schien es nicht zu genügen, seine Freunde und seine Heimatstadt zu verraten – er musste auch noch gemeinsame Sache mit Bernard machen.
In diesem Moment hörte sie ihn sagen: »Gray wird sie holen kommen. Wir müssen jetzt Kahl anrufen!« Er deutete auf einen wackligen Tisch, auf dem verschiedene Gegenstände leuchteten. »Ich habe das Auge und kenne die Zauberformel!«
»Aber du besitzt die Magie nicht.« Bernard lachte, und ihr wurde eiskalt. Dieses Lachen kündigte etwas Schlimmes an.
Plötzlich durchzuckte Lucinda ein Gedanke: Ren hatte einen Pakt mit Kahl abgeschlossen, um ihm Gray auszuliefern. Sie musste die Männer aufhalten, bevor sie den Dämonenlord anriefen. Sie würde bis zum letzten Atemzug kämpfen, um ihren Ehemann vor dieser nochmaligen Tortur zu bewahren.
»Sie hätten das Mädchen nicht entführen sollen.« Ren klang alarmiert. Wahrscheinlich hatte dieser Dummkopf jetzt erst begriffen, wie gefährlich Bernard war. Doch jetzt war es zu spät.
»Darf ein Vater sich nicht seine Tochter zurückholen?« Bernard streichelte über Happys Haar. »Jetzt hält meine Tochter den Fluch über Lucy am Leben, und ich bin frei, um der Hüter von Nevermore zu werden.«
Ren schrie auf, ballte eine Hand zur Faust und schüttelte sie vor Bernards hämischem Gesicht. Daraufhin streckte Bernard eine Hand aus, die Handfläche auf Ren gerichtet, und befahl: »Elektrifizieren.«
Schlagartig wurde es heiß und stickig. Lucinda bekam trotzdem eine Gänsehaut. Sie biss sich auf die Lippen, damit sie nicht laut zu schreien begann. Ihr Herz hämmerte, als die altbekannte Angst durch ihren Körper raste.
Ein blauer Blitzstrahl verließ Bernards Handfläche und schlug in Rens Brust ein. Der Mann wurde in die Höhe gerissen und quer durch die Scheune geschleudert. Es war zu dunkel, und sie konnte nicht sehen, wo er landete. Aber sie hörte es krachen.
Dann war es still.
Bernard drehte sich grinsend zu ihr um.
Alles in ihr erstarb.
»Nun, mein Liebling. Da wären wir. Endlich wieder vereint.«
Lucinda schluckte den Kloß in ihrem Hals herunter. Sie würde ihm ihre Angst nicht zeigen. »Was hast du mit Happy gemacht?«
»Wie oft habe ich dir gesagt, dass meine Tochter nicht deine Angelegenheit ist?« Er kam auf sie zu, den Blick starr auf ihren Mund gerichtet. »Du bist immer noch ziemlich hübsch anzusehen. Zu schade, dass ich dich umbringen muss.« Er hielt inne und hob eine Schulter. »Oder vielleicht lasse ich meine nervige Tochter sterben und behalte doch lieber dich.«
»Nein!« Happy durfte nicht sterben. »Sag mir, was du mit ihr gemacht hast!«
»Ich kann dir einfach nicht widerstehen.« Sein Grinsen war widerlich. »Das muss wohl das besondere Rackmore-Charisma sein. Na gut, ich will es dir verraten, meine kleine Eiskönigin. Dein Fluch will gefüttert werden wie ein gefräßiges Haustier. Happys Lebenskraft ist seine Nahrung. Denn es ernährt sich vom Stammbaum – in diesem Fall dem Stammbaum ihrer Mutter. Ich hatte mich gerade gefragt, welches meiner Kinder seinem lieben Daddy aushelfen könnte, und wen entdecke ich da? Meine vermisste Tochter. Und jetzt bist du auch noch da, meine vermisste Geliebte. Das ist wirklich ein schöner Tag.«
Was konnte sie mit diesen Informationen anfangen? Sie wusste nicht viel mehr über Flüche als die Binsenweisheit: »Flüche sind schlecht, benutze sie nicht.« Und dann verstand sie plötzlich. Bernards Egoismus war wirklich unerträglich. Dieser Mann kannte kein Gewissen. »Zuerst ernährte der Fluch sich von deinem eigenen Stammbaum. Und jetzt hast du ihn auf Talia übertragen?«
»Nun, Talia war eins von nur zwei Kindern, deren Eltern und Großeltern alle tot sind. Und wenn Happy stirbt … stirbt auch dein Fluch.«
»Und wenn ich zuerst sterbe?«
»Bleibt sie am Leben.« Er ging neben ihr in die Hocke. »Es überrascht mich selbst, wie unentschlossen ich bin. Ich habe so lange davon geträumt, dich umzubringen. Schön langsam natürlich.
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