Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
ERSTES BUCH 1897
KAPITEL 1
Und dann das Schloß.
Während sich die Kutsche durch die Dünen kämpfte – schwankend und schlitternd im losen Sand –, warf der Junge einen Blick aus dem Fenster. Auf das Schloß und auf die Ostsee, aus der es sich erhob.
Alles war ganz anders, als er es sich vorgestellt hatte. Natürlich war es das.
Es gab keine Türme, keine Zinnen. Es war nicht diese Art von Schloß. Das Anwesen stand auf einer kleinen Felseninsel. Seine Mauern gingen nahtlos in die hellen Steilwände über, als wären sie über Jahrhunderte hinweg aus dem Gestein gewachsen. Die See lag düster und glatt unterm Herbsthimmel, und doch schlug schäumende Brandung gegen die Insel. Ganz so, als sträube sich das Wasser gegen die düstere Arroganz der Felsnasen, die kantig und stumm das Meer überragten.
Der Kreidefels, auf dem Schloß Institoris thronte, war von winzigen Inselchen umgeben, unbegehbaren Eilanden, kaum eines größer als ein Haus. Vier, zählte der Junge, doch als die Kutsche einen Bogen fuhr und die Inseln sich in einem anderen Winkel darboten, erblickte er eine fünfte, die bislang vom Schloß verdeckt worden war. Auf ihr erhob sich ein alter Leuchtturm, rot und weiß gestreift. Ein vermoderter Zyklop, dessen Lichtauge längst erloschen war. Allein die Seeadler verschlug es noch auf seine Brüstung, von dort aus spähten sie wachsam übers Meer.
Überhaupt, die Vögel. Der Junge bewunderte die stille Majestät, mit der sie auf den Winden ritten, über die einsame Landschaft mit ihren endlosen Strandwällen und Dünentälern, den kargen Erlen-Wäldern, die in den Senken kauerten, den windgebeugten Kiefern und Ginstersträuchern. Doch immer noch war es vor allem das Schloß, das seine Blicke auf sich zog. Sein neues Zuhause.
Je näher sie dem Ufer kamen, desto zahlreicher waren die Einzelheiten, die er erkennen konnte. Schloß Institoris war wie die Insel, auf der es stand, in Form eines Hufeisens angelegt. Es umfaßte eine Gruppe turmhoher Zypressen, die das Gebäude weit überragten. Sie verwehrten den Blick auf den mittleren Trakt. Die seitlichen Flügel aber, im Westen und Osten, waren deutlich zu sehen. Dreigeschossig und vom gleichen Grau wie die See. Lange Fensterreihen, je drei übereinander, hatte man weiß umrahmt, was nur betonte, daß hinter den meisten kein Licht brannte. Die Dächer waren steil, und aus ihren Giebeln stach eine Kompanie schwarzer Kaminschlote, einer neben dem anderen. Aus einigen kräuselte sich Rauch zur satten Wolkendecke empor.
»Christopher.«
Frauenstimmen war er nicht gewohnt, schon gar keine, die seinen Namen so fein betonte. Irritiert zog er den Kopf vom Kutschenfenster zurück und schenkte seiner neuen Mutter ein Lächeln.
Sie legte das Buch zur Seite, das sie während der ganzen Fahrt gehalten, aber kein einziges Mal aufgeschlagen hatte. Mitfühlend beugte sie sich zu ihm vor.
»Christopher«, sagte sie noch einmal, als müsse sie sich erst an den Namen gewöhnen. »Es ist wirklich viel behaglicher, als es aussieht. Es wird dir gefallen, glaub mir.« Die Worte klangen ein wenig müde, als hätte sie sie schon unzählige Male aufgesagt, damit sie sich vielleicht eines Tages bewahrheiteten.
Dabei war es gar nicht so, daß Christopher nicht glücklich war. Oh, das war er, wirklich. Seine Aufregung mochte das ein wenig verschleiern, und natürlich die leise Furcht vor dem Neuen. Aber Glück, ja, das spürte er wohl. Oder besser: Er nahm an, daß das Gefühl, das in ihm glühte, echtes Glück war. Ganz sicher konnte er allerdings nicht sein. Ihm fehlte der Vergleich.
Charlotte Institoris trug einen seltsamen Hut, der mit einem Gesteck aus Muscheln geschmückt war. Sehr eigenwillig. Ihr Haar, war hochgesteckt, nur ein paar pechschwarze Korkenzieherlocken schauten unter der Hutkrempe hervor. Die hohen Wangenknochen schienen ihr Gesicht über Gebühr in die Länge zu ziehen, zudem war es schmal und farblos. Sie war keine schöne Frau, wenngleich sie versuchte, durch häufiges Lächeln Wärme in ihre Züge zu legen.
»Ich bin sicher, ich werde mich wohl fühlen«, sagte er, vielleicht ein wenig zu förmlich. Bruder Markus, der Vorsteher des Waisenhauses, hatte ihm das eingeprägt: Sag, daß es dir gefällt, ganz gleich wie die Dinge kommen. Etwas Besseres werden wir für dich nicht finden.
Damit sie nicht auf die Idee kam, Christopher wolle sich nur selbst überzeugen, setzte er schnell etwas hinzu, irgend etwas. »Ich bin geübt im Rudern.«
Charlotte
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