Pariser Bilder
Band 235 der Bibliothek Suhrkamp
Marcel Jouhandeau
Pariser Bilder
Suhrkamp Verlag
Deutsch von Friedhelm Kemp
Erstes bis drittes Tausend: 969
Copyright by Librairie Gallimard, Paris 934 und 956
Deutsche Übersetzung: © Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 969
Alle Rechte vorbehalten
Druck: Poeschel & Schulz-Schomburgk, Eschwege
Printed in Germany
Erster Teil
Die Natur
Immer sehe ich tief unter meinem Fenster eine etwas magere Alte, die da in ihrem Hof eingeschlossen lebt, wo sie für niemand sichtbar ist außer für mich vom siebenten Stock aus. Nie verläßt sie diesen Aufenthalt, Stellt sie in meinen Augen China, Europa, Frankreich oder die Natur dar? Sie hat ihre weiße Henne, ihre schwarze Katze, ihren Geranientopf, ihren Waschzuber, ihren Tisch, ihren Stuhl, ihren Mann, ihre Arbeit, ihre Ruhe. Morgens im Hemd wäscht sie die Wäschestücke, die sie am Vortag schmutzig gemacht hat, und gekleidet wie ein Reliquienschrein ruht sie sich abends mit gekreuzten Armen aus, ohne zwei Stunden lang etwas anderes anzuschauen als die Mauer, als ob sie im Paradiese wäre, weil sie sich ausruht. Zwei Schritt nur, und sie befände sich unter den Kandelabern des Boulevards. Aber sie zieht die Einsamkeit vor. Da zumindest braucht man sich mit niemand vergleichen zu lassen; sie hat kein Alter, sie ist nicht magerer und nicht dunkler gekleidet als eine andere auch. Die Henne schläf; die Katze sucht sich einen Platz unter der Stalltür und schaut ins Dunkle, als kehrte sie der Welt den Rücken; der Mann steht unter der Tür zur Straße, als kehrte er seiner Frau den Rücken. Sie thront auf ihrem Stuhl, neben ihrem Tisch, ein Geranientopf zu ihren Füßen etwas rechter Hand, der Zuber zu ihrer Linken, kaum weniger groß als Pascals Abgrund. Wenn der Mann hereintritt, stemmt er wie gewohnt den Fuß gegen den Tisch, stützt den Ellbogen auf sein Knie. Wortlos sitzen sie da. Langsam sinkt die Nacht herab, und die entfaltete Zeitung wird nach und nach ganz weiß. Einen Augenblick noch, dann geht die Natur zu Bett. Der Mann hinterdrein.
Schläfer
Ein Mann, der auf dem Seinekai ausgestreckt liegt, hat mit den Armen höher hinauf einen Halt gefunden, läßt Kopf und Beine hängen, und schläf ein. Der Körper ist unter seiner Kleidung dermaßen gespannt, daß die Hose über den Bauch hinabrutscht, den man nackt zwischen der braunen Wollweste und dem blauen Gürtel gewahrt. Im Schlaf macht er eine unmerkliche Bewegung, die Stirn und Beine noch weiter voneinander entfernt, und der Bauch tritt breiter hervor als eine Wunde. Die Hände, in einen einzigen schimmerndweißen Schwanenhals gewunden, zeigen Mörtelspuren um die Nägel, und in ihren Hautfalten spürt man mehr verborgene Intelligenz und Geistigkeit als in den gräßlichen Zügen des Gesichtes, das unter ihnen wie in einen Abgrund verloren hängt.
Das Pferd und die kleinen Vögel
Alle Tage, um ein Uhr, läßt ein Fuhrmann sein Pferd vor einem Restaurant der Avenue de Versailles halten und gibt ihm seine Metze Hafer in einem gut schließenden Sack, den er um die Nüstern befestigt. Angelockt von den Schellen des Gespanns, eilen die kleinen Vögel aus der Nachbarschaf zusammen. Sie haben das Pferd schon erwartet, das sie über den Rand des Sackes herbeifliegen sieht und ihnen zuzulächeln scheint. Die kleinen Vögel heben sich vom Boden bis zu dem reglosen Gesicht, dessen vorgewölbte Augen, die so groß sind wie sie, wohl danach angetan wären, ihnen Angst einzujagen; aber nein; sie müssen darin nichts anderes erblicken als die Güte dieses edlen Tieres, und außerdem steckt das Maul ja mit all seinen Zähnen im Sack. Nur die Hufe scheinen sie zu fürchten, die bei einem Platzwechsel sie versehentlich zermalmen könnten, aber um das geringste Unglück zu vermeiden oder aus Furcht, den Freundeschor zu verscheuchen, hütet das Pferd sich, die Füße zu rühren, und müßte es auch die Fliegenbisse erdulden. Einige haben diese verstohlene Sympathie erraten; schon haben sie ihre kleinen Klauen in das Tuch das Futtersacks geschlagen und picken ungeniert darin; andere neigen sich auf dem Halfer; einer schließlich wiegt sich auf der Spitze des Ohres, das ihn mit einem leichten Erschaudern abschüttelt. Wenn sie allzu dreist werden, läßt sich ein sanfes, friedliches Wiehern vernehmen, das wohl vorwurfsvoll klingen soll; aber ich glaube eher, das Pferd, von diesem Treiben belustigt, wirf absichtlich den Kopf unversehens ein wenig zu hoch in die Luf und
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