Eine hinreißend widerspenstige Lady
Bettler auf der Brücke - ein und dieselbe Person. Und nun taucht er hier auf! Unglaublich.“
„Eigentlich nicht“, meinte sie. „Ahmed wusste, dass er in Kairo nicht mehr sicher war. Dort zu bleiben hätte sowohl mich als auch seine Familie in Gefahr bringen können. Deshalb ist er nach Bulaq gegangen, um auf einem Boot anzuheuern. Als er hörte, dass Lord Noxley nach Miles suchte, heuerte er auf der Memnon an. Zunächst hielt er Noxley für einen guten Herrn, doch ihm kamen Zweifel, als er mitansehen musste, wie dieser gute Herr einige seiner Leute an Krokodile verfütterte.“
„Aber diesmal lief er nicht weg?“ Das Licht der Laterne wurde immer schummriger. Oder war es Ruperts Verstand, der hinwegdämmerte? Ihm war, als würde er dahintreiben ... auf einem Fluss ... oder nein, eher schweben ... auf einer Wolke.
„Er hielt die Stellung, weil er fest entschlossen war, Miles zu finden. Als Noxleys Leute meinen Bruder gefunden hatten, blieb er, um ihn zu beschützen. Da er sich einen Bart hatte wachsen lassen, erkannte Miles ihn nicht, und Ahmed beschloss, sich nicht zu erkennen zu geben, bevor er nicht wüsste, wie ihnen beiden die Flucht gelingen sollte. Dann bin ich aufgetaucht und habe alles verkompliziert.“
Und so redete sie weiter, doch ihre Stimme klang wie ferne Musik in Ruperts Ohren, lieblich und vertraut. Schließlich schwebten auch diese leisen Klänge davon, und Rupert schlief.
Samstag, 5. Mai
Carsington wachte erst am späten Nachmittag wieder auf. Die Sonne strömte durch das Kabinenfenster herein. Am Fußende seines Diwans saß Miles, ein Buch in der Hand, mit dem er sich die Zeit zu vertreiben suchte.
Als Carsington sich schließlich aufsetzte, legte er die Lektüre erleichtert beiseite.
„Ich weiß nicht, ob Sie sich schon aufsetzen dürfen“, meinte Miles.
Unter hochgezogenen Brauen sahen pechschwarze Augen ihn unverwandt an.
Miles besann sich, dass alle Aufregung von dem Patienten fernzuhalten sei. „Andererseits“, fügte er hinzu, „wüsste ich nicht, wer Sie davon abhalten könnte. Daphne vielleicht, doch ich habe sie überredet, sich endlich schlafen zu legen, nachdem sie die ganze Nacht an Ihrem Bett gesessen hatte. Sie sorgt sich, dass Sie fiebern könnten.“
„Sehr unwahrscheinlich“, befand Carsington. „Wie sollte ich ihnen jemals wieder ins Gesicht sehen, wenn ich anfinge zu fiebern - wegen eines kleinen Kratzers? Sie würden sich krumm und schief lachen, allesamt.“
„Wer?“, fragte Miles, leicht verwundert.
„Die ganze Familie“, erwiderte Carsington. „Meine Brüder. Alistair war in Waterloo, müssen Sie wissen.“
„Ich weiß.“
Alle Welt wusste es. Alistair Carsington war der berühmte Held von Waterloo. Warum konnte es nicht ihn nach Ägyten verschlagen haben oder irgendeinen anderen der Carsingtons? Warum ausgerechnet diesen hier?
„Die Franzosen haben drei Pferde unter ihm weggeschossen, ihn mit Säbeln attackiert und mit Lanzen drangsaliert“, fuhr Carsington fort. „Die eigene Kavallerie ist über ihn hinweggeritten, und Dutzende Soldaten sind auf ihm gestorben. Aber hat er deswegen zu fiebern begonnen?“
„Und, hat er?“, fragte Miles.
„Na ja, zumindest nicht schlimm“, sagte Carsington. „Immerhin hat er überlebt, nicht wahr? Da werde ich wohl einen kleinen Kratzer am Bauch überstehen.“
„Das will ich hoffen“, meinte Miles. „Daphne wäre wenig angetan, wenn Sie so bald schon unter die Erde kämen.“
Was sie ausgestanden haben musste, als sie Carsington tot glaubte! Miles kam sich recht töricht vor, nicht eher bemerkt zu haben, wie viel der Kerl ihr bedeutete. Aber sie hatte sich wirklich nichts anmerken lassen.
Zudem hatte Daphne noch nie ein Auge auf Männer gehabt -und wenn doch, dann nur, um sie voller Misstrauen zu beäugen. Weshalb hätte das nun bei Carsington anders sein sollen? Warum sollte ausgerechnet er der Mann sein, für den sie ihr Leben aufs Spiel setzte? Er konnte ja noch immer kaum glauben, dass seine Schwester, die nichts außer Büchern im Sinn hatte, ihr Leben aufs Spiel gesetzt hatte, um ihn, Miles, zu retten - und er war immerhin ihr Bruder.
So in Gedanken vertieft, fielen ihm die Instruktionen, mit denen sie ihn am Krankenlager zurückgelassen hatte, etwas verspätet ein. „Ich soll Ihnen ein Glas Wasser anbieten“, sagte er. „Daphne meinte, sie habe Ihnen Laudanum gegeben und wahrscheinlich hätten Sie großen Durst, wenn Sie aufwachten.“ „Mein Mund fühlt sich an wie die
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