Eine kurze Geschichte der alltäglichen Dinge
Grundelement waren gusseiserne Träger, etwa neunzig Zentimeter breit und gut sieben Meter lang, die man miteinander verschraubte, so dass ein Rahmen entstand, in den man die Glasscheiben einsetzen konnte — fast einhunderttausend Quadratmeter oder ein Drittel all des Glases, das normalerweise in einem Jahr in Großbritannien produziert wurde. Zum Einbauen konstruierte man eine besondere mobile Plattform, die sich an den Dachträgern entlangbewegte, so dass die Arbeiter achtzehntausend Scheiben in der Woche schafften — eine Effizienz und Produktivität, die selbst heute noch an ein Wunder grenzen würde. Um die notwendigen laufenden Meter Dachrinnen anzubringen, insgesamt mehr als dreißig Kilometer, entwarf Paxton eine Maschine, mit deren Hilfe ein kleines Team etwa sechshundert Meter amTag verlegen konnte. Bisher wäre das die Tagesleistung von dreihundert Mann gewesen. Das Projekt war in jeder Hinsicht der helle Wahn.
Paxton hatte allerdings großes Glück, was das Timing betraf, denn genau rechtzeitig zur Weltausstellung wurde Glas plötzlich in Mengen verfügbar wie nie zuvor. Es war immer ein heikles Material gewesen. Gutes Glas zu produzieren war schwer, ja, überhaupt welches herzustellen war nicht leicht. Nicht umsonst war es so lange ein Luxusgegenstand gewesen. Doch erfreulicherweise brachten zwei neue technische Erfindungen eine Veränderung. Zunächst einmal erfanden die Franzosen Walzglas, das so genannt wurde, weil das flüssige Glas auf Platten ausgebreitet und dann gewalzt wurde. Zum ersten Mal konnte man wirklich große Scheiben und damit auch große Schaufenster herstellen. Das Walzglas musste aber zehn Tage abkühlen, wenn es ausgerollt worden war, was bedeutete, dass die Platten die meiste Zeit belegt waren. Danach musste jede Glasscheibe ausgiebig geschliffen und poliert werden. Was das Ganze natürlich teuer machte. 1838 wurde eine billigere Herstellungsmethode entwickelt: Flachglas. Das hatte die meisten guten Eigenschaften von Walzglas, kühlte aber schneller ab und musste nicht so lange poliert werden, war also viel billiger in der Herstellung. Plötzlich konnte man Glas in großen Scheiben unbegrenzt und preiswert produzieren.
Gleichzeitig wurden gerade zur rechten Zeit zwei uralte Steuern abgeschafft: die Fenstersteuer und die Glassteuer (die, streng genommen, eine Verbrauchssteuer war). Die Fenstersteuer stammte aus dem Jahre 1696 und war so exorbitant, dass die Leute, wo irgend möglich, überhaupt keine Fenster in ihre Häuser bauten. Die zugemauerten Fensteröffnungen, die uns heute an vielen historischen Gebäuden in Großbritannien auffallen, waren nur angemalt, damit sie wie Fenster aussahen. (Manchmal ist es sehr, sehr schade, dass sie nicht immer noch angemalt sind.) Die Steuer war als »Steuer auf Luft und Licht« zutiefst verhasst, denn sie bedeutete, dass Diener und andere Menschen mit begrenzten Mitteln dazu verdammt waren, in Luft- und lichtlosen Räumen zu wohnen.
Die zweite Steuer wurde 1746 eingeführt und richtete sich nicht nach der Anzahl der Fenster, sondern nach dem Gewicht des Glases in den Fenstern. Also wurde während der gesamten georgianischen Ära dünnes, schwaches Glas produziert, während man die Fensterrahmen zum Ausgleich sehr robust machte. In der Zeit kamen auch die sogenannten Ochsenaugen oder Butzenscheiben auf. Mit Ochsenauge bezeichnete man die Stelle auf einer Glasplatte, an der das Nabeleisen des Glasmachers ansetzte. Weil dieser Teil des Glases als Makel galt, wurde er nicht besteuert und entwickelte einen gewissen Reiz für die, die aufs Geld achten mussten oder wollten. Butzenscheiben wurden beliebt in einfachen Gasthöfen und Läden sowie in Privathäusern auf der hinteren Seite des Hauses, wo es nicht auf Schick und Eleganz ankam. Die Glassteuer wurde 1845 abgeschafft, unmittelbar vor ihrem einhundertsten Geburtstag, und kurz danach auch die Steuer auf Fensterscheiben, zufällig — und praktisch — 1851. Just in dem Moment, als Paxton mehr Glas brauchte als je ein Mensch zuvor, sank der Preis um mehr als die Hälfte. Zusammen mit den technischen Neuerungen bei der Glasherstellung war das dann ein wesentlicher Grund, warum der Bau des Kristallpalastes überhaupt erst möglich wurde.
Der fertige Palast war (passend zum Jahr seiner Fertigstellung) genau 1851 Fuß (564 Meter) lang, 408 Fuß (124 Meter) breit und in der Mitte fast 110 Fuß (33,5 Meter) hoch, so dass man eine viel bewunderte Allee mit Ulmen darin belassen konnte, die sonst
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