Eine Liebe zu sich selbst, die glücklich macht (German Edition)
Geschlechtern gemeinsamen »primären Feminität« aufbaut. Damit lenkte sie den Blick – in erwähnter Umkehrung der kulturkritischen Perspektive Freuds – auch auf die Problematik der Theorie des Ödipuskomplexes. Denn anzunehmen war nun, dass dieses bloß männlich ausgelegte Konstrukt selbst als Keim der sozialen »Krankheiten« der Menschen verstanden werden muss. Diene er doch den Mädchen als psychischer Organisationskomplex im Sinne eines Negativs und trage damit unumgänglich zur Polarisierung von männlich/weiblich und zur Verfestigung von Herrschaftsverhältnissen bei, die auf dieser Polarisierung aufbauen.
Margarete Mitscherlich war mutig. Sie hat sich immer exponiert, öffentlich, konfrontativ, in der Frauenbewegung, in Büchern, bei Fernsehauftritten. Vieles, was in der heutigen Psychoanalyse common sense ist, fand ihren Widerspruch: die nosologische »Bereinigung« der Neurosen von ihren sozialen und politischen Ursachen, die Ablehnung der Metapsychologie, der Kleinianismus, die heute zu beobachtende Akademisierung der Psychoanalyse, die modische Vermischung von Psychoanalyse und Neurowissenschaft und eine damit einhergehende Beseitigung der Triebtheorie und schließlich die Verkürzungen seelischen Leids auf »Psychotrauma«.
Man begriffe Margarete Mitscherlichs Verständnis von Psychoanalyse überhaupt nicht, wenn man ihr kritisches Auftreten in der Öffentlichkeit als bloße Zutat betrachtete, als Ausdruck einer persönlichen Handlungslust, sich mit den Mächtigen anzulegen oder Hahnenfedrigkeit. Öffentliches Engagement (z.B. in der Nichtregierungsorganisation medico international) war für sie immer und zwingend notwendiger Bestandteil der »Redekur«. Psychoanalyse hat sich aus zwei »Reden« zusammenzusetzen, einer eingeschlossenen und einer öffentlichen. Das, was Margarete Mitscherlich öffentlich sagte, waren Beschwörungen dieses Zusammenhangs. Öffentliche Kritik ist notwendiger Bestandteil der Methode. Das Wissen über die Wirkungen gesellschaftlich produzierten seelischen Unglücks, die Einbettung des Unbewussten in latente und manifeste gesellschaftliche Gewaltverhältnisse, all das bliebe folgenlos, wenn es nicht laut ausgesprochen würde. So erst kann es gehört und von gesellschaftskritischen Bewegungen aufgegriffen und gegenüber den Mächtigen vertreten werden. So in der Öffentlichkeit geäußert, wirkt es dann aber auch dialogisch und korrigierend auf die Psychoanalyse des Innenlebens zurück. Erst auf diesem Wege werden unsere Theorien wahr, können unsere analytischen Wissensbestände und Haltungen zurechtgerüttelt werden. Der Satz »wer sich nicht bewegt, spürt seine Ketten nicht«, hatte auch für Psychoanalytiker Geltung. Ihre immer offene Rede, ohne falsches Mitleid, die beherzte Art, wie sie Fragen anging, die ehrliche und unverdruckste Art, öffentlich nachzudenken und Selbstzweifel zu äußern, all das ließ die Psychoanalyse als wenig überichhaft, ja als eine befreiende, geradezu fröhliche Wissenschaft erscheinen.
Als ob da etwas von dem Gestaltungsdrang und der suggestiven Tendenz der Medizin hinzugekommen wäre, handelte Margarete Mitscherlich im besten Sinne ärztlich, im Sinne Rudolf Virchows, der in öffentlichen Aufrufen gegen die preußische Regierung die epidemische Verbreitung von Typhus den »Lebensverhältnissen, der Armut und dem Mangel an Kultur« zuschrieb. Alexander Mitscherlich hat von Psychoanalytikern immer gefordert, sie sollten öffentlich »mit Vernunft angreifen«. Besser kann man das Denken und Handeln von Margarete Mitscherlich nicht beschreiben. Und wo – so muss man fragen – stünde heute die Psychoanalyse in Deutschland ohne sie, ohne ihr Werk.
Wolfgang Leuschner ist der ehemalige stellvertretende Leiter des Sigmund-Freud-Institutes Frankfurt am Main
Nachbemerkung
Margarete Mitscherlich starb im Juni 2012, nachdem der Plan zu diesem Buch Gestalt angenommen hatte. Im Herbst 2011 hatten wir gemeinsam begonnen, Manuskripte zusammenzustellen, die sie für geeignet hielt und deren Veröffentlichung in einem Sammelband ihr sehr am Herzen lag. Als ich ihr Anfang dieses Jahres aufgrund ihrer Auswahl ein Konzept vorschlug, sah sie als Titel »Eine Liebe zu sich selbst, die glücklich macht« vor. Zu dem Gespräch, das für das Verfassen einiger Überlegungen zu diesem Titel vorgesehen war und das im vorliegenden Band hätte abgedruckt werden sollen, kam es nicht mehr.
Die Autorin hat von den Texten, die die vorliegende Veröffentlichung
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