Eine Liebe zu sich selbst, die glücklich macht (German Edition)
ich war ja schon 65 Jahre alt, als Alexander starb. Es gab dann so Verliebtheiten, aber die waren nicht so tiefgehend, dass sie zu sexuellen Beziehungen geführt hätten. Wenn man miteinander alt wird, werden auch die Körper miteinander alt. Das erträgt man ohne Ekel. Wenn Sie mir aber einen fremden Gleichaltrigen vorsetzen, werde ich seinen Körper alles andere als sexy finden.
In welchem Alter haben Sie Ihre sexuelle Befreiung erlebt?
Spät. Eigentlich habe ich erst mit Alexander die Lust an meiner Sexualität entdeckt. Da war ich schon dreißig. Zuvor hatte ich mich jahrelang mit einem Tuberkulosekranken verbunden, der seelisch schwer gestört war und den ich nicht liebte. Diese merkwürdige Beziehung war der unbewusste Versuch, die Liebeswahl meiner Mutter zu imitieren. Sie hing zeitlebens an ihrem ersten Verlobten, der kurz vor der Hochzeit an Tuberkulose gestorben war. Die Trauer um den idealisierten Toten hat ihr nie ganz erlaubt, im Hier und Jetzt zu leben. Ich übergab ihr dann gewissermaßen meinen Freund, weil ich es für meinen Lebenssinn hielt, sie glücklich zu machen. Vielleicht bin ich Psychoanalytikerin geworden, um meine Mutter von ihrer Melancholie zu heilen.
Wie sah Ihre Sexualerziehung aus?
Sexualität durfte man nur genießen, wenn sie Hingabe und Opfer war. Als meine Mutter entdeckte, dass ich mit meinem Genital spielte, machte sie ihre traurigen Augen und betrachtete mich, als wäre ich der Auswurf der Menschheit. Ich dachte, ich hätte etwas Furchtbares getan, das mich bis ans Lebensende schädigt. Mein Vater, von Beruf Arzt, sagte, ich dürfe nun keine Eier mehr essen. Sexualität war die Hauptsünde, schlimmer, als neidisch, kaltherzig oder bösartig zu sein. Das habe ich so internalisiert, dass ich einen Bekenntniszwang entwickelte. Wenn ich onaniert hatte, ging ich zu meiner Mutter und offenbarte ihr meine Tat, um mich von meinen schlimmen Schuldgefühlen zu befreien. Ich weiß noch, was für eine große Befreiung es war, zum ersten Mal lügen zu können.
Was haben Sie in Ihrem Leben versäumt?
Ich habe meiner Mutter immer vorgeworfen, dass ich nicht mehr schöne Männer lieben konnte. Wenn ich um die 20 einen attraktiven Freund hatte, sagte ihre Stimme in mir: ›Du musst den Mann heiraten, mit dem du schläfst.‹ Da ist mir einiges entgangen. Nur eine Minderheit wünscht sich im Alter, ein tugendhafteres Leben geführt zu haben. Ich wünschte, ich hätte mehr gesündigt.
Gehört zur Melancholie des Alters, dass man vor allem an das denkt, was sich nicht erfüllt hat, nicht erfüllen konnte?
»Melancholie des Alters« klingt so hochtrabend. Man wird einsam, das ist es. Alter ist auch Verzicht auf Bewegung, auf Reisen, auf Schönheit. Ich bin schon acht Zentimeter geschrumpft. Das Alter reduziert einen bis zur Lebensmüdigkeit. Ein ungebetener Begleiter des Alters ist das große Vergessen. Wir sind doch, an was wir uns erinnern.
In der Bibel gibt es das Wort »lebenssatt«. Haben Sie diesen Zustand erreicht?
Lebenssatt zu sein wäre schön, weil man dann beruhigt sterben könnte. Ich bin es aber noch nicht, denn auch das Glück altert. Mein Glück besteht jetzt darin, mir festliche Augenblicke zu verschaffen und die Blumen auf meinem Balkon zu genießen. Zur Tragödie des Alters gehört, dass man die Fähigkeit zur Anteilnahme verliert, erst an Freunden, dann an sich selbst. Das Herz schrumpft, und man betrachtet die Welt gleichgültig. Dagegen arbeite ich an. Da ich immer noch Patienten habe, bin ich Gott sei Dank gezwungen, oft an andere zu denken.
Wie oft quälen Ihre Träume Sie?
Immer dann, wenn es in ihnen Zukunft gibt. Beim Aufwachen fällt es mir schwer, mich mit meiner Zukunftslosigkeit abzufinden. An guten Tagen amüsiere ich mich über diese alte Frau, die da im Schlaf so leichtsinnig Zukunftsträume schmiedet. In meinen Träumen bin ich phantastisch in Form und laufe leichtfüßig die Berge im Tessin hoch. Im wirklichen Leben brauche ich wegen einer Rückgratverletzung für die kleinste Strecke einen Rollator.
Haben Sie noch erotische Träume?
Ja, aber sie sind seltener geworden, weil die Liebe zum eigenen Körper mit zunehmender Gebrechlichkeit schwindet. Ich glaube aber, die Libido erlischt erst ganz in unserer Sterbesekunde. Ich habe ein mildes Verhältnis zu meinen sexuellen Phantasien und sage mir: ›Ach, mein Kind, du bist halt ein wenig zu alt, um das noch in die Tat umzusetzen.‹
Gibt es Tage, an denen Sie nicht an den Tod
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