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Eine Messe für all die Toten

Eine Messe für all die Toten

Titel: Eine Messe für all die Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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Schulter an und
setzte den Becher auf das Tischchen, das zwischen den Ehebetten stand.
    Josephs nickte, grunzte und drehte sich auf den
Rücken. Er sah zu seiner Frau hinüber, die vor dem Ankleidetisch stand und sich
das Nachthemd über den Kopf streifte. Sie wurde allmählich ein bißchen breiter
um die Hüften, war aber noch immer von langbeiniger Eleganz, und ihre Brüste
waren fest und voll. Dennoch sah Josephs sie nicht direkt an, als sie jetzt
sekundenlang nackt vor dem Spiegel stand. In den letzten Monaten war es ihm
zunehmend peinlich, ihren Körper zu betrachten, als dringe er damit in eine
Privatsphäre ein, in die sie ihn nicht mehr ausdrücklich einlud. Er setzte sich
auf und trank seinen Tee, während sie den Seitenreißverschluß an ihrem braunen
Rock hochzog. «Die Zeitung schon da?»
    «Hätt ich sonst mitgebracht.» Sie beugte sich
aus der Taille nach vorn und nahm ein paar kosmetische Verschönerungsaktionen
an ihrem Gesicht vor. Josephs hatte nie viel Interesse für die Reihenfolge
aufbringen können.
    «Hat tüchtig geregnet in der Nacht.»
    «Regnet noch», meinte Brenda.
    «Gut für den Garten.»
    «Hm.»
    «Schon gefrühstückt?»
    Sie schüttelte den Kopf. «Aber Schinken haben
wir noch reichlich, wenn du...» Sie fuhr mit dem Lippenstift über den
Schmollmund. «Und Pilze sind auch noch ein paar da.»
    Josephs trank seinen Tee aus und legte sich
zurück. Es war fünf vor halb acht, in fünf Minuten mußte Brenda los. Sie
arbeitete vormittags am Radcliffe Infirmary, wo sie vor zwei Jahren wieder als
Krankenschwester angefangen hatte. Vor zwei Jahren, kurz nachdem...
    Sie kam zu ihm ans Bett, streifte mit den Lippen
leicht seine Stirn, griff sich den Becher und verließ das Zimmer. Aber gleich
darauf war sie wieder da. «Fast hätte ich’s vergessen, Harry. Ich bin heute
mittag zum Essen nicht hier, kannst du dir was machen? Ich muß mir unbedingt in
der Stadt was besorgen. Aber spätestens um drei bin ich zurück. Ich bring auch
was Schönes zum Abendessen mit.»
    Josephs nickte stumm. Sie stand noch an der Tür.
«Brauchst du was? Aus der Stadt, meine ich.»
    «Nein.» Einen Augenblick lag er ganz still und
horchte nach unten auf ihre Schritte.
    «Tschüs!»
    «Wiedersehen.» Die Haustür schlug hinter ihr zu.
«Wiedersehen, Brenda.»
    Er zog die Bettdecke zurück, stand auf und
spähte seitlich durch den Vorhang. Der Allegro rollte vorsichtig im
Rückwärtsgang auf die stille, nasse Straße hinaus, gab noch die Auspuffwölkchen
von sich — dann war er verschwunden. Zum Radcliffe waren es genau 2,8 Meilen,
das wußte Josephs. Drei Jahre lang war er selbst genau dieselbe Strecke
gefahren, zu dem Gebäude der Stadtverwaltung unterhalb des Krankenhauses, in
dem er nach zwanzig Jahren, bei der Army tätig gewesen war. Vor zwei Jahren
nach den neuesten Kürzungen der öffentlichen Haushalte, war es zu
Personaleinsparungen gekommen, und drei der sieben Mitarbeiter, darunter auch
er, hatten ihre Stellung verloren. Er war weder der Älteste noch der
Unerfahrenste, doch von den Älteren hatte er die wenigste Erfahrung, und von
den weniger Erfahrenen war er der Älteste. Ein leicht versilberter Händedruck,
eine Abschiedsfete und eine kleine Hoffnung, einen neuen Job zu finden. Nein,
falsch: Fast keine Hoffnung, einen neuen Job zu finden. Damals war er 48
gewesen, genaugenommen noch nicht besonders alt. Doch ganz allmählich hatte er
die traurige Wahrheit begriffen: Niemand wollte ihn mehr haben. Nach über einem
Jahr deprimierender Untätigkeit hatte er dann doch eine Stelle gefunden, in
einer Apotheke in Summertown, aber die Filiale war kürzlich geschlossen worden,
und er fast froh gewesen, daß damit auch sein Arbeitsverhältnis auslief. Er,
ein Mann, der sich in der Kommandotruppe der Königlichen Marine bis zum
Hauptmann hochgearbeitet hatte, der im malaysischen Dschungel zur
Terroristenbekämpfung eingesetzt gewesen war, hatte dienstbeflissen hinter
einer Theke stehen und Pillen und Pülverchen an irgendein mageres,
bleichsüchtiges Bürschchen verkaufen müssen, das bei den Übungen seiner Einheit
nicht fünf Sekunden durchgehalten hätte. Und dann hatte der Chef auch noch
verlangt, daß er bei jedem Einkauf «Vielen Dank, Sir!» sagte.
    Er schob den Gedanken beiseite und zog den
Vorhang zurück.
    An der Ecke hatten sich Leute an der
Bushaltestelle angestellt, mit aufgespannten Schirmen, denn ein stetiger
Nieselregen ging auf die strohfarbenen Felder und Wiesen nieder. Ein Vers, den
er in

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