Eine Stuermische Nacht
angetreten und die Rolle des Familienoberhauptes übernommen. Leider passte sie ihm nicht gut. Der neue Squire unterschied sich von seinem Vorgänger wie der Tag von der Nacht. Jeffery war auf keinen Fall ein Familienmensch und hatte weder die Zeit noch die Geduld für eine mürrische alte Frau, eine in Tränen aufgelöste Witwe, die soeben nicht nur ihren Gatten, sondern auch ihr ungeborenes Kinder verloren hatte, oder für Emily, die ihn voller Argwohn betrachtete. Nur widerstrebend hatte er ihre Anwesenheit in dem schönen Gutshaus hingenommen, in dem die Familie Townsend nun schon über zweihundert Jahre lebte.
Der Fremde rührte sich, stöhnte und riss sie damit aus ihren unangenehmen Erinnerungen. Sie eilte an seine Seite, stellte sich neben ihn, strich ihm eine Strähne vom Salzwasser verkrustetes Haar aus der Stirn.
Sie beobachtete ihn mehrere Sekunden lang, aber sie konnte kein Anzeichen dafür erkennen, dass er bald aufwachen würde. Während sie ihn weiter anstarrte, die dicken schwarzen Brauen, die lachhaft langen Wimpern und das dunkle Gesicht, fragte sie sich wieder, wer er war und warum er auf dem Wasser gewesen war. Hatte er eine Familie, die sich um ihn sorgte? Eine Mutter? Eine Ehefrau? Kinder?
Die Wunde gefiel ihr gar nicht. Es sah für sie so aus, als ob etwas … oder als ob jemand ihn absichtlich mit etwas Schwerem und Hartem auf den Kopf geschlagen hatte. Nicht, dass sie eine Expertin wäre, aber in den vier Jahren, seit sie es übernommen hatte, sie alle durch Schmuggel vor Armut und Elend zu bewahren, hatte sie ihren Teil Wunden versorgt und genäht. Manche waren einfach die Folge der Gefahren, die die Seefahrt mit sich brachte; andere stammten aus Zusammenstößen mit den Zollfahndern oder mit der gefährlichen Nolles-Bande, die diesen Teil von Sussex als ihr Hoheitsgebiet ansah. Sie hatte Wunden wie diese schon zuvor gesehen, und die Ursache war in der Regel ein Schlag auf den Hinterkopf.
Faith, die mit achtundzwanzig Jahren die älteste Gilbert-Tochter war, öffnete die Tür und spähte ins Zimmer. Als sie Emily am Bett stehen sah, kam sie herein und stellte sich neben sie.
»Wer auch immer es ist, er sieht gut aus, oder?«
Emily zuckte die Achseln. Sie dachte an ihren Cousin und sagte:
»Das allein will nichts heißen. Edel ist, wer Edles tut.« Sie schaute Faith an.
»Ist deine Mutter wieder zurück?«
»Nein, aber Sam ist gekommen und hat ausgerichtet, dass sie nicht mehr lange braucht.«
»Hat er gesagt, weshalb sie verspätet sind?« Emily blickte zu der bemalten Porzellanuhr auf dem Kaminsims. Es war bald zwei Uhr morgens.
»Die Ponys müssten inzwischen beladen und auf dem Weg sein.«
»Ich nehme an, es liegt am Sturm, dass sie heute so spät dran sind.«
»Es stürmt immer, Faith«, erwiderte Emily ungeduldig, »das sollte also keinen Unterschied machen.«
»Nun, das stimmt natürlich, aber der Fremde …«
Emily seufzte. Faith hatte ja recht. Der Fremde hatte ihren ganzen Zeitplan durcheinandergebracht. Da sie anders als die Nolles-Bande nicht den einfach zugänglichen Hafen von Cuckmere als Landeplatz nehmen konnten, war ihre unerschrockene kleine Bande darauf angewiesen, ihre Schmuggelwaren den steilen Pfad an den schroffen Kalkwänden der Seven Sisters hinaufzuschaffen. Den bewusstlosen Fremden unversehrt auf diesem Wege ins Dorf zu bringen war beileibe keine leichte Aufgabe gewesen, sondern hatte viel Zeit in Anspruch genommen.
»Möchten Sie, dass ich Ihnen etwas Suppe oder ein heißes Getränk heraufbringe?«, fragte Faith.
Emily schüttelte den Kopf; ohne den Blick von dem Fremden abzuwenden, antwortete sie.
»Ich brauche nichts, danke. Und bis er aufwacht, ist es ohnehin nicht nötig, irgendetwas warm zu machen. Du kannst gehen und deinen Schwestern in der Küche helfen.«
Unsicher musterte Faith sie.
»Miss«, begann sie zögernd, »sollten Sie nicht nach Hause reiten? Sie sind bereits viel länger als sonst vom Herrenhaus fort. Was, wenn der Squire Ihre Abwesenheit bemerkt?«
Mit mehr Zuversicht, als sie eigentlich empfand, erwiderte Emily:
»Mach dir keine Sorgen. Mein Cousin wähnt mich sicher in meinem Bett. Ehe ich aufgebrochen bin, habe ich nach ihm gesehen – er war schon recht angetrunken, dank seiner Zecherei mit Mr Ainsworth, seinem geckenhaften Freund, den er entweder mit mir oder Anne verheiratet sehen will.«
Mitfühlend nickte Faith, und da es sonst nichts für sie zu tun gab, ging sie wieder nach unten.
Emily starrte auf die Tür,
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