Eine Stuermische Nacht
irrt.«
Mary grinste zurück.
»Darauf können Sie Ihre letzte Guinee verwetten.«
Emily nahm das saubere weiße Tuch, tunkte es in die Wasserschüssel und begann behutsam die hässliche Wunde zu säubern, zuckte zusammen, als der Mann unter ihrer Behandlung stöhnte. Nur gut, dass er bewusstlos ist , dachte sie, als sie das Tuch wieder eintunkte und erneut zu reiben begann.
Mary erschauerte, als ein heftiger Windstoß die Wände des Gasthofes erschüttern ließ.
»Ma sagt, es sei ein Wunder, dass er noch lebt. Nicht viele Männer überleben ein unfreiwilliges Bad im Ärmelkanal in einer Nacht wie heute.«
Emily konzentrierte sich auf ihre Aufgabe und nickte, dann antwortete sie:
»Ich frage mich nur, was er dort draußen zu suchen hatte. Und wer er ist.«
Mary wurde ganz blass, als ihr ein Gedanke kam.
»Oh, Miss! Glauben Sie, er ist ein Zollfahnder?«
Nachdem sie die Wunde so gut wie möglich gereinigt hatte, ließ Emily den nun blutbefleckten Lappen in die Schüssel fallen und musterte die Züge des Mannes, bemerkte die breite Stirn, die hohen Wangenknochen und den großzügig geschnittenen Mund. Sie hatte nichts, an dem sie ihre Einschätzung festmachen konnte, aber sie war sich ziemlich sicher, dass das Fahnden nach Schmugglern die letzte Beschäftigung wäre, die sie diesem Mann zugetraut hätte. Da war etwas in seinem Gesicht …
Emily schüttelte den Kopf.
»Nein, das denke ich nicht.« Sie hob die Decken an und schaute auf seine Hand, betrachtete die langen eleganten Finger und die sauberen, sorgfältig manikürten Fingernägel. Sie runzelte die Stirn und sah zu Mary.
»Hat Jeb die Kleider mit hergebracht, die er getragen hat? Oder hat er sie auf dem Boot gelassen?«
Marys hübsches Gesicht wurde lebhaft.
»Sie sind unten am Feuer in dem kleinen Privatsalon auf der Rückseite. Denken Sie, sie können uns verraten, wer er ist?«
Emily bedachte den Fremden mit einem letzten Blick. Er schien ruhiger zu liegen, und der blaue Schimmer seiner Lippen verschwand allmählich. Es gab nichts mehr, was sie jetzt noch für ihn tun konnte. Sie stand auf und sagte:
»Ich denke, wir wissen mehr über ihn als jetzt, wenn wir einen Blick auf die Kleidung geworfen haben, die er getragen hat, als Jeb ihn aus dem Wasser gezogen hat.«
Und das stimmte – die Kleidung verriet Emily einiges. Obwohl sie unter dem Salzwasser gelitten hatte, war mühelos zu erkennen, dass das weiße Leinenhemd mit den Rüschen teuer gewesen sein musste und ausgezeichnet gearbeitet war. Die in Altweiß und Hellbraun gemusterte Seidenweste konnte sich nur ein wohlhabender Mann leisten, ebenso wie die ruinierte Taschenuhr an der Goldkette und den kostbaren Uhranhänger. Das Halstuch mit den Wasserflecken war ebenso wie das Hemd von bester Qualität, und die eleganten Hosen gehörten auch eher einem Mann von Stand und Ansehen. Als er ins Wasser gefallen war, nahm sie an, hatte er sich klugerweise Rock und Stiefel ausgezogen, um sich des zusätzlichen Gewichts zu entledigen.
Sie betrachtete die Kleidungsstücke, die über ein paar Stühle vor dem Feuer ausgebreitet lagen, und überlegte, was sie nun wusste. Der Fremde war offenbar ein reicher Mann. Jedenfalls kein Zollfahnder, so viel stand fest.
Emily ließ seine Kleidung zurück und schickte Mary in die Küche, dann ging sie wieder nach oben. Sie nahm neben dem Mann auf einem Stuhl Platz und starrte ihn an, als könnte sie ihn mit purer Willenskraft aufwecken und ihn dazu bringen, ihr zu verraten, wer er war und wie er in den Ärmelkanal geraten war.
Da sie die Tochter des früheren Squire war und ihr ganzes Leben in der Nähe des kleinen Ortes im Cuckmere-Tal verbracht hatte, kannte sie die Bewohner der Gegend genau. Sie verzog die Lippen. Und seit ihr Cousin ihrem Vater nachgefolgt war, hatte sie unseligerweise auch die Bekanntschaft einer Reihe unverschämter junger Tunichtgute und mehrerer Witwen mit fragwürdiger Moral aus London gemacht, aus denen der Freundeskreis ihres Cousins vorzugsweise bestand.
Dieser Mann war ein völlig Fremder, aber er war nicht einfach nur Strandgut, das der Ärmelkanal angespült hatte. Er war wohlhabend, und seine Hände verrieten, dass er der Oberschicht entstammte, vielleicht sogar dem Adel angehörte.
Mit zusammengezogenen Brauen starrte sie ihn weiter an. Es hatte keinen Klatsch darüber gegeben, dass jemand, auf den seine Beschreibung passte, auf irgendeinem der benachbarten Herrenhäuser zu Besuch weilte … Also, wer war er? Und warum war
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