Eine Sünde zuviel
Dahlmann nach.
Wie schlank sie ist, dachte er. Wie blond, wie erregend jung –
Er wunderte sich nicht, daß in ihm der letzte Rest einer mitleidenden Traurigkeit verging.
Mit schnellen Schritten rannte er Monika nach und faßte sie unter. Es sah nach einem fürsorglichen Unterstützen aus … Ernst Dahlmann aber machte es glücklich. Er fühlte sein Herz klopfen, als er ihren Körper an seinem Handrücken spürte. Es war wie vor fünf Jahren … der Puls an seinem Hals hämmerte.
Sie wird immer blind sein, dachte er, als sie durch die weißen, stillen Gänge zur Augenstation gingen. Eine gnädige Blindheit, die ihr vieles verschweigen wird und sie glücklich bleiben läßt. Nicht sehen, kann auch eine Gnade sein … so gnadenlos wie das Gefühl eines Menschen.
Vor dem Zimmer 29 der Augenstation blieben sie stehen. An der Tür hing ein Schild. Eintritt verboten. Sie sahen sich an, in Monikas hellen, blauen Kinderaugen flimmerte es.
»Was … was soll ich sagen, Ernst?« fragte sie leise.
»Nichts, Moni. Nur entsetzt darfst du nicht sein … das merkt sie. Sprich zu ihr wie immer, als sei nichts geschehen.«
»Wir werden sie immer belügen müssen, Ernst?«
»Immer –«
Auch diese Lüge wird barmherzig sein, dachte er.
Wie herrlich, herrlich jung ist sie –
Das Zimmer war hell, die Frühlingssonne flutete durch das breite Fenster, irgendwo auf einer Dachrinne oder einem hohen Ast der Gartenbäume flötete ein verliebter Star, auf dem kleinen Tisch an der Wand, unter einem Bild der Burg Neuschwanstein, stand in einer grünen Glasvase ein dicker Tulpen- und Narzissenstrauß. Es war wohltuend warm nach der feuchten Nacht … vom Garten zog der Geruch aufgebrochener und in der Sonne dampfender Gartenerde bis ins Zimmer.
Von all dem sah und empfand Luise Dahlmann nichts. Seit sie aus der Bewußtlosigkeit erwacht war, lag sie still auf dem Rücken, den Kopf in Bandagen, über den Augen eine dicke, weiche Watteschicht. Sie spürte, daß die Ärzte ihr Gesicht mit einer Salbe eingerieben hatten, die das Brennen isolierte und die verätzte Haut mit einem fettigen Schutzfilm überzog.
Nachdem Ernst Dahlmann gegangen war, hatte sie die ganze Nacht wach gelegen. Die Schwester, die ab und zu ins Zimmer kam, glaubte, sie schliefe fest.
***
Für Luise Dahlmann gab es nach dem ersten seelischen Schock keine Klagen mehr. Von jeher war sie ein logisch denkender, oft nüchterner Mensch gewesen, der Tatsachen hinnahm und sie nicht beweinte. Dadurch wird's auch nicht besser, war ihre ständige Rede, wenn Unvorhergesehenes in den Alltag einfiel. Man muß sehen und sich bemühen, aus der neuen Situation das Beste herauszuholen. Was unabänderlich war, brauchte nicht beklagt zu werden. Das war Zeitverschwendung.
Mit der gleichen Logik überdachte sie nun ihre eigene Lage. So schrecklich sie war, sie mußte für das weitere Leben als Grundlage betrachtet werden. Ein von Säure zerstörtes Gesicht, verätzte, leblose Augen, Blindheit … das waren die Tatsachen, die ihr noch niemand gesagt hatte, aber die sie wußte.
Ernst wird die Apotheke völlig allein leiten, dachte sie. Er ist ein guter Mann, er hat geweint, als er an meinem Bett saß … ich habe es gehört an seiner Stimme, auch wenn er sich bemühte, es nicht zu zeigen. Ich werde ihm ein ganzes Leben lang eine Belastung sein, ein tappender, hilfloser Mensch, der wieder lernen muß, wie man geht, wie man fühlt, wie man hört … ein Mensch, der sich in ewiger Nacht zurechtfinden muß und nur mit dem inneren Auge sieht, was er anfaßt oder was um ihn ist. Ein Mensch, der Freude und Liebe spüren muß, weil er die kleinen, täglichen Beweise der Liebe nicht mehr sieht … einen Blick, ein Nicken, ein Lächeln, eine stumme Liebeserklärung …
Er wird ein schweres Leben haben … aber er wird es ertragen, weil er mich liebt. Das war ein Gedanke, der Luise Dahlmann froh machte. Ein Leben ist mit der Blindheit nicht zu Ende … es wird nur innerlicher, konzentrierter, ja fast hungriger nach Freude, Liebe und Glück. Ein Leben, das nach Zärtlichkeiten sich sehnen wird, das die Wärme der Geborgenheit braucht, das Wissen, doppelt geliebt zu werden. Das alles – das wußte sie – würde ihr Ernst Dahlmann geben können.
Sie dachte an die Worte ihres Vaters, als Dahlmann damals vor über vier Jahren um ihre Hand anhielt: »Du bist alt genug, du mußt wissen, was du tust, du bist ein so kluges Mädchen … aber wenn ein Mann auftaucht, in den man verschossen ist, ist
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