Eine unberührte Welt - Band 3 (German Edition)
mir sagst, ob ich gerade etwas Unwahres über dich erzählt habe.«
»Nein«, gestand Siren, »aber …«
Gurot hob eine Hand, um ihn zu unterbrechen. »Ferner möchte ich wissen, ob du dir vorstellen kannst, dass einige der hier Anwesenden einfach aufgrund deiner Jugend und der Erinnerungen an deine Kinderstreiche voreingenommen gegen dich sind. Kannst du dir das vorstellen?«
»Ja.«
»Gut. Aber wie gesagt, wir wollen alles gründlich bedenken, unabhängig von all diesem.« Der alte Mann legte seine Hand auf das Buch vor ihm. »Du weißt, dass ich mich eingehend mit den alten Schriften und Überlieferungen befasst habe. Danach zu urteilen, hat es immer diese zwei Seiten gegeben: auf der einen Seite wir, die Menschen – auf der anderen Seite sie, die Vampire. Man kann natürlich fragen, warum. Viele alte Schriften tun das auch. Meistens fragen sie gleichzeitig nach Gott, dem Schöpfer aller Dinge, und nach der Rolle, die wir oder die Vampire in seinem Plan spielen. Die unangenehmste Antwort ist meist die, dass wir Menschen vielleicht einfach nur als Futter für die Vampire dienen sollen. Das gefällt uns nicht. Mir gefällt das auch nicht, ebensowenig wie dir, aber andererseits können wir unser Gefallen oder Missfallen nicht zum Maßstab aller Dinge machen, nicht wahr? Etwas ist so, wie es ist, unabhängig davon, ob es uns gefällt oder nicht. Eineandere Erklärung, die immer wieder gefunden wird, ist, dass es einfach stets ein Gleichgewicht geben muss zwischen der Zahl der Menschen und der Zahl der Vampire. Wenn es viele Menschen gibt, steigt die Zahl der Vampire, und diese dezimieren wieder die Anzahl der Menschen. Gibt es umgekehrt zu wenig Menschen, verhungern viele Vampire, und die Menschen können sich wieder vermehren. Ohne die Vampire, heißt das, würden wir Menschen uns schrankenlos, ins Unermessliche vermehren.« Gurot spreizte die Finger. »Aber, wie gesagt, das ist auch nur ein Erklärungsversuch, der uns nicht zu gefallen braucht. Was man mit Sicherheit sagen kann, ist, dass wir nicht wissen, wozu Vampire da sind. Wir wissen aber auch nicht, wozu der Tag da ist oder die Nacht. Wir wissen nicht einmal, wozu wir selber da sind oder wozu es so etwas wie Leben überhaupt gibt. Letztlich ist alles ein Mysterium. Alles ist einfach so, wie es ist.«
Gurot sah in die Runde, in andachtsvoll lauschende Gesichter. »Ich muss wohl nicht erwähnen, dass in den alten Schriften nirgends, nicht an einer einzigen Stelle, die Rede davon ist, dass es jenseits der Berge so etwas wie ein gesegnetes Land geben könnte. In den Überlieferungen existiert nicht der geringste Hinweis auf ein Land, wo keine Vampire, sondern nur glückliche Menschen leben. Zwar sprechen die Schriften durchaus von einem gelobten Land, aber um dorthin zu gelangen, muss man ein gottgefälliges Leben im Diesseits führen, ein Leben der Arbeit, der Entsagungen und der Prüfungen. Das ist natürlich anstrengend und unangenehm. Dass man dieses gelobte Land auch anders, nämlich durch einen einfachen Fußmarsch erreichen könne – das hat noch nie jemand behauptet. Noch nie bis heute Abend. Bis du kamst, Siren. Sag mir eines: Findest du das nicht selber merkwürdig?«
»Vielleicht ist vor mir noch nie jemand zurückgekehrt von dort?«
»Ah ja?« Gurot hob die Augenbrauen. »Aber jetzt bist ja du da, nicht wahr? Jetzt wird alles anders. Die heiligen Schriften, die alten Bücher, das können wir nun alles bedenkenlos verbrennen, denn du bringst uns die Wahrheit. Unsere zahllosen Toten können wir vergessen, denn sie sind ja ganz sinnlos gestorben. Denn ein Zeitalter geht zu Ende heute Abend, nicht wahr, und ein neues beginnt. Sollen wir esdas Zeitalter des Siren nennen?« Seine Stimme war schneidend scharf geworden.
Siren schaute hilflos drein. »Ich kann euch nur sagen, dass ich …«
»Ganz zweifellos glaubst du, was du sagst, Siren«, nickte Gurot. »Ich glaube dir. Wirklich. Ich bin der festen Überzeugung, dass du wirklich glaubst, jenseits der Berge liege die Erlösung.«
»Ja?«
»Ja, sicher. Siehst du, Siren, mir geht es so, dass ich das gerne auch glauben würde. Wirklich, mein Herz brennt danach, dir zu glauben. Aber mein Kopf …« Er lehnte sich zurück und lächelte wehmütig. »Mein Kopf kennt mittlerweile die Schliche des Herzens. Das Herz glaubt, was es sich wünscht. Höre mir nun gut zu, Siren, und versuche von meiner Lebenserfahrung zu profitieren. Ich will dich nicht verurteilen. Ich möchte dir nur erklären, was in dir
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