Eine unberührte Welt
Gedanken ganz woanders. »Du sagst, an Weihnachten musst du Mensch werden … Was heißt das? Was bist du das restliche Jahr über?«
Er zögerte. Dabei wusste sie schon, was er antworten würde.
»Da bin ich ein Hund«, sagte er.
Ein Fluch, durchfuhr sie die Erkenntnis. Ein Fluch lastet auf ihm, genau wie in den Märchen. Und heute Nacht ist die Gelegenheit, den Bann zu brechen.
Lena sah sich blinzelnd um, betrachtete die Kellertür, den Schlüssel, der nun von innen steckte, die Waschmaschine, die auf dem Betonboden verstreute Schmutzwäsche, die kahlen Wände, die nach dem Krieg das letzte Mal gestrichen worden waren. »Wir müssen nicht hier unten in der Kälte herumstehen«, sagte sie. »Gehen wir nach oben. Möchtest du etwas essen?«
»Ja, gern«, sagte Julius.
Sie stiegen die Treppe hoch, und Lenas Gedanken nahmen Fahrt auf. Das Schicksal des Jungen hing jetzt von ihr ab, höchstwahrscheinlich zumindest. Sie durfte keinen Fehler machen, musste richtig entscheiden … Die plötzliche Last der Verantwortung nahm ihr fast den Atem.
»Was möchtest du?«, fragte sie, als sie die Küche betraten. Hier war es angenehmer als im Keller, aber auch nicht gerade gemütlich. Lena drehte die Heizung auf, obwohl sie wusste, dass das nichts nützen würde, weil es schon spät war und der Kessel nur noch auf Nachttemperatur lief.
»Etwas Warmes«, bat der Junge und fügte mit unüberhörbarer Begeisterung in der Stimme hinzu: »Etwas mit Schokolade.«
Das also hatte er vermisst. Natürlich. Was bekam ein Hund zu fressen? Fleisch, aus der Dose. Kalt.
»Etwas Warmes mit Schokolade«, wiederholte Lena. »Soll ich dir einen Kakao machen?«
»Das wäre prima«, nickte Julius.
Sie nahm eine Kasserolle vom Haken, entzündete die Gasflamme, holte Milch aus dem Kühlschrank. Ihre Gedanken rotierten derweil weiter. Wie war ein Bann zu brechen? Sie brauchte einen Hinweis, irgendeine Spur …
Kakaopulver war noch da, zum Glück.
»Die letzten Male – letztes Weihnachten und die Weihnachten davor – wusstest du da, dass ich nicht zu Hause war?«, fragte sie, während sie die Milch rührte.
»Ja«, sagte er.
»Woher?«
»Ein Hund weiß so was.«
Aha. »Und diesmal?«
»Ich wusste nicht, wo ich sonst hin sollte. Ich wollte ganz leise sein, im Keller bleiben …«
»Verstehe.« Sie steckte einen Finger in den Kakao. Heiß genug. Sie füllte alles in eine große Tasse und stellte sie ihm hin. »Erzähl doch mal. Wie ist das alles gekommen?«
Er griff mit beiden Händen nach der Tasse. »Was?«
»Dass du zum Hund geworden bist.«
»Genau weiß ich das auch nicht … Es war an Weihnachten. Ich denke, deswegen fällt die Zeit, in der ich Mensch werden muss, immer auf Heiligabend.« Er trank, immer noch mit beiden Händen. Es wirkte ungeschickt, so, als wäre er den Gebrauch seiner Hände nicht mehr gewöhnt.
Immerhin hat er den Schlüssel ins Schloss bekommen, dachte Lena. »Was ist passiert?«
»Ach, es war ein ganz blöder Anlass. Ich hatte mir einen MP3-Player zu Weihnachten gewünscht, und zwar wirklich gewünscht, ganz fest. Ich meine, es hätte ja irgendeiner sein können, auch ein ganz billiger; alle in der Schule hatten so ein Teil, bloß ich nicht, das war wirklich nicht mehr witzig, verstehen Sie? Jedenfalls habe ich meiner Mutter damit monatelang in den Ohren gelegen, hab es wirklich bei jeder Gelegenheit gesagt, und ich dachte, vielleicht hört sie diesmal auf mich …« Sein Gesicht verschloss sich, sein Blick schien in eine weit entfernte Vergangenheit zu entgleiten. »Mutter hat sich damals immer um den Hund von Frau Bose gekümmert – das ist eine Freundin von ihr, die oft verreisen muss, geschäftlich und so. Meine Mutter war ganz vernarrt in dieses Viech, und ausgerechnet diesmal war die Töle das erste Mal über Weihnachten da, fast den ganzen Dezember über. Und als ich dann unter dem Weihnachtsbaum saß, meine Mutter mit dem Hund spielte und redete, die ganze Zeit, echt … und ich mein Geschenk auspackte und es nur ein blödes Hemd war … da bin ich ausgerastet.«
Er atmete schwer, schien den dampfenden Becher in seinen Händen vergessen zu haben.
Lena sagte nichts.
»Es war nicht, weil ich nicht bekommen hatte, was ich mir gewünscht hatte, verstehen Sie? Es war, dass meine Mutter sich nicht einmal daran erinnerte, was ich mir gewünscht hatte. Ich hatte mindestens seit September jeden verdammten Tag auf sie eingeredet, und sie hatte nicht mal mitbekommen, dass ich mir was gewünscht
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