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Eine unberührte Welt

Eine unberührte Welt

Titel: Eine unberührte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
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hatte!«
    Lena nickte sachte. »Und dann?«
    »Ich hab das Hemd liegen lassen und bin auf mein Zimmer gegangen. Aber die Wut ist angeschwollen und angeschwollen, weil es immer so war, verstehen Sie, immer, und am Ende ist irgendwas in mir … geplatzt. Ich bin abgehauen. Raus. Mitten in der Nacht. Es war sternklar, das weiß ich noch, und kalt, und ich bin einfach nur durch die Straßen gelaufen und gelaufen …« Er sah sie an, mit einem Blick, in dem sich Schmerz spiegelte. Nein, mehr als Schmerz – Entsetzen. »Irgendwann war ich auf dem Hermannsberg. Den nennt man auch Hexenberg, wussten Sie das?«
    »Hexenberg?« Das hatte Lena nicht gewusst. Aber irgendwie überraschte es sie nicht.
    Julius atmete immer noch schwer, brachte eine ganze Weile nichts heraus. »Ich war … Ich weiß nicht. Ich habe die ganze Zeit nur gedacht: ›Ich möchte ein Hund sein. Ich möchte ein Hund sein. Wäre ich ein Hund, dann würde sich meine Mutter auch um mich kümmern.‹ Immer wieder dieser Gedanke, wie ein glühendes Eisen, das in mir herum und herum wühlte …«
    Er starrte ins Leere, minutenlang. Dann brach die Starre, er seufzte, erinnerte sich wieder an den Kakao in seinen Händen und führte die Tasse an den Mund, für einen ungeheuren Schluck.
    »Und dann?«, fragte Lena schließlich.
    Julius zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Von da an konnte ich es. Ich bin irgendwann zu mir gekommen, und erst mal hab ich nur gemerkt, dass irgendwas anders ist. Ich hab ’ne Weile gebraucht, ehe ich kapiert hatte, dass ich auf einmal ein Hund war.«
    »Das muss ein ziemlicher Schock gewesen sein.«
    Er sah sie erstaunt an. »Ein Schock? Nein, überhaupt nicht. Es war okay. Ich hab nicht groß drüber nachgedacht … Man denkt ganz anders, wenn man ein Hund ist, wissen Sie? Mir war einfach kalt, ich wollte irgendwohin, wo es mir besser gehen würde, und dann bin ich nach Hause gelaufen. Ich wusste nicht einmal mehr, dass man klingelt, ich hab einfach an der Tür gekratzt und gejault, bis mir meine Mutter aufgemacht hat … Sie hat sich gefreut, das habe ich gemerkt. Der andere Hund war schon fort, und sie hat mir zu fressen gegeben und so weiter … Es war gut, ganz einfach. Es ging mir gut, und mehr wollte ich nicht. Ich erinnere mich, dass eine seltsame Unruhe im Haus herrschte, die mich nervös gemacht hat – ich hab damals nicht begriffen, dass es war, weil sie nach mir suchten; so was begreift man nicht als Hund.« Julius zuckte mit den Schultern. »Ich bin einfach geblieben, weil es mir dort gut ging. Ganz einfach.«
    Lena spürte eine Gänsehaut über den Rücken laufen. »Bis es wieder Weihnachten wurde.«
    »Ja.«
    »Hast du gewusst, was dann passieren würde?«
    Der Junge schüttelte den Kopf. »Da war bloß so eine … Unruhe. Ich bin raus, instinktiv, hab mich im Gebüsch versteckt, mich gefürchtet, ja. Bis ich dann …« Er hob den Becher mit einer heftigen Bewegung an die Lippen, trank ihn leer und stellte ihn hart auf den Tisch zurück.
    Das knallende Geräusch schien lange nachzuhallen.
    »Willst du noch etwas?«, fragte Lena.
    Er zögerte. »Könnte ich bitte vielleicht ein … Rührei haben?« Der Ton, in dem er es sagte, schnitt Lena ins Herz. Es klang so mutlos, als sei ihm noch nie irgendein Wunsch erfüllt worden, den er geäußert hatte.
    Bis auf den, ein Hund zu sein.
    »Rührei.« Lena öffnete den Kühlschrank. Ein Glück, es waren mehr als genug Eier da. »Kein Problem. Hast du großen Hunger?«
    »Riesenhunger.«
    »Alles klar.«
    Sie setzte eine Pfanne aufs Feuer, ließ Butter darin zerlaufen. »Das klingt wie aus einem Märchen«, sagte sie so beiläufig und nebenbei wie möglich. »Der verzauberte Junge, der nur an einem Tag im Jahr seine menschliche Gestalt wiedererlangt.«
    »Hmm«, machte Julius hinter ihrem Rücken.
    »Hast du eine Idee, was diesen Zauberbann wieder aufheben könnte?« In Märchen war das einfach. Da tauchte immer jemand auf, der erklärte, wie das Spiel lief. Man erfuhr den Grund dafür, dass jemand verzaubert worden war, und welch schier unmögliche Aufgabe es zu erfüllen galt, damit der Fluch wieder von ihm genommen wurde.
    Sie drehte das Gas herunter, schlug drei Eier in die Pfanne und begann, die Masse zu verrühren. Von Julius kam keine Antwort. Sie drehte sich um und sah in ein verwundertes Gesicht.
    »Was für ein Zauberbann?«, fragte er.
    »Na ja. Was immer es ist, das dich zwingt, als Hund zu leben.«
    »Es zwingt mich doch niemand.«
    Es roch angebrannt. Lena

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