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Eine unberührte Welt

Eine unberührte Welt

Titel: Eine unberührte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
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der Wochen immer schmutziger geworden. Und nun war er nicht mehr da, war verschwunden – an Weihnachten auch noch, hieß es –, und seine Eltern mussten damit leben, dass nie irgendeine Spur von ihm gefunden worden war.
    Sicher musste man, wie meistens in solchen Fällen, vom Schlimmsten ausgehen, also davon, dass der kleine Julius nicht mehr lebte, aber solange man keine Gewissheit hatte, blieb eben doch ein quälender Rest Hoffnung. Lena begegnete den Eltern gelegentlich auf der Straße. Der Vater war ein verbitterter Mann Mitte fünfzig, der seit damals eine Privatfehde gegen die in seinen Augen unfähige Polizei führte, indem er immer wieder Beschwerden einreichte und jede Zeitungsmeldung über unaufgeklärte Verbrechen zum Anlass für ätzende Leserbriefe nahm, die das Lokalblatt auch stets abdruckte. Seine Frau, dicklich und etwa zehn Jahre jünger, tröstete sich mit einem mageren kleinen Schäferhundmischling, der ihr kurz nach dem Verschwinden Julius’ zugelaufen war und den sie seither mit inbrünstiger Liebe umhegte – ja, Lena hatte durchaus den Eindruck, dass diese Frau den Hund im Grunde mehr liebte, als sie ihren Sohn geliebt hatte.
    Für die Bergers war Weihnachten jedenfalls bestimmt schlimmer, dachte Lena, und die Einsicht, dass es Menschen gab, die schlechter dran waren als sie selbst, veranlasste sie, an keinem Bettler vorbeizugehen, ohne ihm ein paar Münzen in den Hut oder die Pappschale zu werfen. Ihr schauderte, wenn diese abgehärmten, schlecht gekleideten Menschen ihr mit schwülstigen Worten dankten, und sie fragte sich, wo sie wohl den Weihnachtsabend verbringen würden und unter welchen Umständen. Sie konnte wahrhaft froh sein, dass sie ein gut geheiztes Haus besaß und nichts entbehrte außer menschlicher Gesellschaft.
    Und trotzdem …
    Je näher Heiligabend rückte, desto größer wurde die Unruhe, die sie erfüllte. Sie drehte jeden Abend ihre übliche Runde durchs Haus, um zu prüfen, dass alle Türen und Fenster auch wirklich verschlossen waren – und das Haus besaß von beidem eine Menge –, doch vor dem Schlafengehen konnte sie nicht anders, als noch einmal einen zweiten Rundgang zu machen. Dass dieser stets erbrachte, dass das Haus tatsächlich im Rahmen des Möglichen verrammelt und verriegelt war, änderte nichts an diesem Zwang.
    Vielleicht, überlegte Lena, musste sie im neuen Jahr doch einmal psychologische Hilfe suchen.
    Diese zwanghaften Rundgänge waren vermutlich Ausdruck ihres Unbewussten, einer uneingestandenen Angst, vielleicht sogar eines Wunsches, es möge jemand kommen, es möge jemand in ihr Leben eindringen … Das war ihr klar; sie hatte etliche Bücher darüber gelesen. Das Problem war nur, dass das Lesen von Büchern wenig half gegen solche Ängste. Nichts eigentlich. Dabei konnte sie sich schon denken, dass ein Psychologe ihr auch nichts anderes raten würde als das, was sie sich selber immer wieder sagte: dass sie ihr Leben ändern musste, das schon viel zu früh in ein viel zu festes Gleis geraten war.
    Aber wie stellte man das an? Sie hatte keine Ahnung. Also kamen die Ängste, logisch.
    Und sie kamen in Wellen. Am schlimmsten war es eben immer um Weihnachten herum. Die letzten Jahre hatte sie, wenn sie von den Besuchen bei ihrem Vater zurückgekehrt war, manchmal das Gefühl geplagt, es sei in ihrer Abwesenheit jemand im Haus gewesen. Jemand, der nichts gestohlen und keine Spuren hinterlassen hatte, was natürlich nicht für einen Einbrecher aus dem wirklichen Leben sprach. Es war ihr vorgekommen, als fehlten Lebensmittel – doch war sie in Dingen des täglichen Lebens kein so systematischer Mensch, dass sich dieser Verdacht irgendwie hätte bestätigen lassen. Einmal hatte sie bei ihrer Rückkehr einen aufgedrehten Heizkörper vorgefunden, worüber sie sich sehr erschreckt hatte, bis ihr eingefallen war, dass sie ihn wahrscheinlich selbst geöffnet und dann vergessen hatte vor ihrer Abfahrt.
    Das war ihr alles klar, und sie nahm sich das mit dem Psychologen fest vor, während sie an Heiligabend bei Einbruch der Dämmerung den zweiten, überflüssigen Rundgang absolvierte. Sie suchte danach sogar ein paar Nummern aus dem Telefonbuch heraus und legte den Zettel zwischen die entsprechenden Seiten ihres Kalenders.
    Und machte, sicherheitshalber, noch einen dritten Rundgang.
    Diesmal kam ihr die Idee, auch die nach innen führenden Türen der einzelnen Kellerräume abzuschließen. Den Heizkeller. Die Waschküche. Die Werkstatt, in der das Werkzeug

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