Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine unberührte Welt

Eine unberührte Welt

Titel: Eine unberührte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
Vom Netzwerk:
Abständen, und es klang wie das Stöhnen eines Kindes. Was um alles in der Welt machte ein stöhnendes Kind an Heiligabend in ihrer Waschküche?
    Auf einmal ertrug Lena all diese Fragen nicht mehr, die sich in ihrem Kopf jagten und überschlugen. Sie hob den Schürhaken mit der einen Hand, bereit, zuzuschlagen, drehte mit der anderen in einer heftigen, ungeduldigen Bewegung den Schlüssel und riss die Tür auf.
    Der Korb mit der Schmutzwäsche war umgestoßen. Auf dem traurigen Haufen aus Slips und Handtüchern lag ein Junge von vierzehn oder fünfzehn Jahren, in einer seltsam verkrümmten Haltung, das Gesicht verzerrt, am ganzen Körper zitternd.
    Was kein Wunder war, denn es war kalt, und er war splitternackt.
    »Wer bist du?«, stieß Lena hervor.
    Der Junge antwortete nicht. Er machte auch keinerlei Anstalten, seine Blöße zu bedecken. Lena sah auf sein Geschlecht, das zwar von dunklem Haar umrahmt war, aber trotzdem so klein und niedlich aussah wie das eines Puttenengels auf einem Barockgemälde.
    Es gehörte sich nicht, darauf zu starren. Sie hob den Blick und begegnete dem seinen.
    Und erkannte ihn.
    »Julius?«
    Der verschwundene Sohn der Bergers …? Sie verstand überhaupt nichts mehr.
    Er sagte immer noch nichts, aber sein Gesicht spannte sich an, wie unter einer alle Kräfte fordernden Anstrengung.
    »Was machst du?«
    Da war ihr Blick auf seine Füße gefallen, o Gott, seine Füße, oder was immer das war, und ein Schrei stieg in ihr hoch, blieb ihr in der Kehle stecken, wollte hinaus … Das waren keine Füße, keine menschlichen zumindest, das waren die Hinterbeine eines Tiers, längliche, fellbedeckte Läufe mit Krallen! Der Schrei drang nach außen, aber nur in Form eines erstickten Keuchens.
    »Gleich«, stöhnte der Junge. Julius. »Die Füße brauchen immer am längsten.«
    Was? Wovon redete er?
    »Einen Moment noch –«
    Wie gelähmt stand Lena da und sah zu, wie sich die Läufe verformten, langsam und zäh, wie das Fell dünner wurde, durchscheinender, und wie es schließlich verschwand und nur Haut zurückließ, wie sich die Krallen zu Zehennägeln umbildeten und die langgezogenen Hinterbeine zu menschlichen Füßen wurden. Julius ächzte während dieses gespenstischen Prozesses leise; was da vor sich ging, schien nicht nur anstrengend, sondern auch schmerzhaft zu sein.
    »Kann ich bitte etwas zum Anziehen haben?«, flüsterte der Junge schließlich. »Mir ist kalt.«
    »Was?« Lena war, als erwache sie aus einem schlechten Traum, nur um zu sehen, dass es kein Traum gewesen war. »Zum Anziehen …?« Sie fuhr sich mit der Hand durch das Haar. »Ich weiß nicht, was ich dir da … welche Größe und so … für einen Jungen …«
    Julius zog die Beine an sich, rollte sich zusammen. Zu mehr schien er im Augenblick nicht in der Lage zu sein. »Im Raum nebenan. Dort, wo all die Schränke stehen … Also, in der untersten Schublade ganz rechts, da müsste ein grauer Trainingsanzug liegen.«
    Lena starrte ihn an, außerstande, sich zu bewegen.
    »Den habe ich die letzten Male immer getragen«, hauchte der Junge verlegen.
    Die letzten Male?, fuhr es ihr durch den Kopf. Also doch. Sie hatte sich nichts eingebildet. Es war beinahe eine Erleichterung, das zu hören.
    »Warte«, sagte Lena.
    Sie ging hinaus, öffnete die Tür zum Nebenraum, machte Licht. Tatsächlich, in der Schublade lag ein dicker grauer Trainingsanzug, der einst ihrem Vater gehört hatte. Er roch muffig, aber er war warm, einigermaßen jedenfalls. Darunter lagen dicke, handgestrickte Socken, die Lena ebenfalls herausnahm.
    Als sie damit in die Waschküche zurückkehrte, stand Julius da und wartete. Er schien seine Nacktheit überhaupt nicht zu bemerken, so, als habe er vergessen, was es damit auf sich hatte, nackt zu sein.
    Sie reichte ihm die Sachen. »Hier. Und jetzt würde ich gern erfahren, was hier los ist.«
    Er schlüpfte in die Hose. »An Weihnachten muss ich immer Mensch werden. An Heiligabend kurz vor Mitternacht geht es los, und irgendwann am nächsten Morgen ist es wieder vorbei.« Er warf ihr einen scheuen Blick zu, griff nach den Socken. »Ich bin die letzten Jahre immer hier im Haus gewesen, während Sie nicht da waren. Tut mir leid.«
    »Und wie bist du hereingekommen?«
    »Ich wusste, dass Sie Ihren Reserveschlüssel in der kleinen blauen Vase auf dem Fensterbrett im Anbau aufbewahren.« Er streifte das Oberteil über. »Ich hab Sie mal beobachtet, als ich noch klein war. Von einem der Bäume aus.«
    Lena nickte, in

Weitere Kostenlose Bücher