Eine zweite Chance
stumm, sie kann nicht atmen, und die Gedanken rasen wie eingesperrte Tiere in Panik herum.
Als er ihre Verzweiflung sieht, umarmt er sie. Ihre Arme hängen an der Seite herab, unfähig, sich zu bewegen. Es ist das letzte Mal, dass sie sich berühren.
Alles, was sie will, ist, ihn dazu zu zwingen, das zu empfinden, was sie fühlt, er soll an derselben Ohnmacht und Hilflosigkeit zerbrechen.
Als er am nächsten Tag abfährt, steht sie im Zimmer Nummer vier und streicht.
Die Tür zu Emelies Zimmer war verschlossen. Helena legte das Ohr daran, aber alles war still. Sie ließ das Anklopfen zu kleinen Morsesignalen werden. Bitte mach, dass wir uns wieder vertragen, bevor der Schlaf uns trennt.
Als die Antwort ausblieb, öffnete sie die Tür einen Spalt weit, und das Licht der Lampe in der Diele fiel in einem Streifen auf die Decke über Emelies Rücken.
»Dann gute Nacht, wir sehen uns morgen.«
»Mm.«
Emelie blieb mit dem Gesicht zur Wand liegen, und um nicht mit diesem unbehaglichen Gefühl schlafen gehen zu müssen, ging Helena zu ihr hin und strich ihr über den Kopf.
»Es tut mir leid, dass ich vorhin so sauer geklungen habe. Ich bin nur so furchtbar müde, aber es war ungerecht, dass ich das an dir ausgelassen habe.«
Emelie zog die Decke über die Schultern.
»Das ist okay, gute Nacht.«
Helena blieb stehen, obwohl die Antwort klar gewesen war. Es gab so viele ungesagte Worte. Helenas eigene wurden weniger und weniger, sie schafften es nicht, gegen etwas anzukämpfen, das anscheinend nicht erreicht werden wollte. Sie selbst empfand ein tiefes Bedürfnis nach Trost. Sie wollte Emelie sagen hören, sie verstehe, dass sie müde sei. Sie sei dankbar für ihre Anstrengung, ihren Alltag besser funktionieren zu lassen. Alles würde sich bald besser anfühlen, wenn sie nur zusammenhielten. Aber Emelie sagte nie die Worte, die Helena hören wollte, auch wenn sie wusste, dass das zu viel verlangt war.
Emelie hatte selbst genug an ihrer eigenen Trauer zu tragen.
Ihr Handy lag neben dem Bett auf dem Boden, und Helena bekam Lust, es mitzunehmen. Es kam vor, dass sie heimlich auf die Anruferliste schaute, um zu sehen, wie oft Martin angerufen hatte, und heute Abend fühlte es sich besonders dringend an. Irgendwelche Nachrichten hatte sie nie gefunden, weder eingetroffene noch gesendete, doch sie hatte den Verdacht, dass Emelie sie gelöscht hatte. Es war Martin, der ihr das Handy geschenkt hatte. Helena konnte ihr kaum verbieten, es zu benutzen. Aber es störte sie, dass die beiden untereinander Kontakt halten konnten, ohne dass sie selbst beteiligt war. Und dass sie nicht wusste, wie häufig sie miteinander sprachen.
Sie ließ das Handy liegen. Würde sie dabei ertappt werden, wäre Emelie verärgert, und wertvolle Pluspunkte würden an Martin verloren gehen.
Helena ging ins Badezimmer und wusch sich das Gesicht. Die Abendtoilette war schnell erledigt, weil sie kein Make-up trug. Seit sie aufs Land gezogen waren, hatten sich ihre Gewohnheiten geändert. Anfangs hatte es sich befreiend angefühlt, nicht das Make-up und die korrekte Kleidung zu brauchen, die an ihrem früheren Arbeitsplatz erwartet wurden. Mit der Zeit hatte sie ganz aufgehört, sich zu schminken. Hinterher, vor vollendete Tatsachen gestellt, bereute sie es manchmal, dass sie sich nicht mehr angestrengt hatte. Dass sie sich nicht mehr um ihr Aussehen bemüht hatte. Dass sie sich die ausgefransten Spitzen selbst abgeschnitten hatte, statt zum Friseur zu fahren. Nicht versucht hatte, sich manchmal schick zu machen.
Auch wenn es nur für Martin war.
Seine neue Frau war von der Sorte, die sie schon immer beneidet hatte. Klein und feingliedrig und wie gemacht dafür, über Schwellen getragen und sorgsam auf weichen Polstern abgelegt zu werden. Auch wenn Helena immer schlank gewesen war, fühlte sie sich mit ihren hunderteinundachtzig Zentimetern oft groß und plump. Die Neue war eine natürliche Schönheit, scheinbar ganz ungeschminkt, aber Helena hatte sehr wohl das Arsenal an Schminkzubehör gesehen, während der Wochen, in denen sie eine Schmarotzerin im Hotel gewesen war und Helena die Aufgabe gehabt hatte, ihr Zimmer zu putzen.
Sie ließ die Lampe im Badezimmer brennen und die Tür einen Spalt weit offen stehen. Das Licht in dem Spalt gab Orientierung und war für Emelie da. Die Tochter hatte ihre Angst vor der Dunkelheit geerbt. Auch bei Helena war es immer wieder ein Problem gewesen, wenn Martin verreisen musste. Aber seit der Trennung war die
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