Eine zweite Chance
erfüllte all ihre Erwartungen.
Aber dann traf sie Martin.
Er war ein ganz gewöhnlicher Junge mit gewöhnlichen Interessen, der an der Stockholmer Universität Soziologie studierte. Er stammte aus einer gewöhnlichen Familie und war in einem gewöhnlichen Reihenhaus in einem Gebiet mit scheinbar gewöhnlichen Menschen aufgewachsen. Es war gerade die Normalität, die ihr Interesse geweckt hatte. Während die anderen Stewardessen, Lehrer oder Schauspieler werden wollten, war es immer ihr Kindheitstraum gewesen, einmal wie alle anderen zu werden.
Es war keine unmittelbare Leidenschaft, eher eine vorsichtige Annäherung, die wieder und wieder aufgrund ihres Unvermögens stagnierte. Von einem anderen Hintergrund geprägt, war Martin zuverlässig, rücksichtsvoll und vorhersehbar, und das führte schnell zu Problemen. Sie hatte immer wieder Erfahrungen mit der Launenhaftigkeit der Menschen gemacht und versuchte, auch an ihm eine Seite zu provozieren, von der sie ausging, dass sie schlecht war und sich hinter seiner einschmeichelnden Fassade verbarg. Aber Martin blieb der, der er war. Als nichts mehr so kam, wie sie es erwartet hatte, war sie verwirrt. Denn er ließ sich nicht provozieren, er war vor allem verwundert und fragte ausgerechnet sie , was er machen sollte, damit es ihr gut ging. Mehrmals hatte sie die Beziehung abgebrochen, die Adrenalinkicks, die sie von früheren instabilen Verhältnissen gewohnt war, blieben aus, und sein offenkundiges Interesse empfand sie als suspekt. In der Ruhe, die entstand, war sie niedergeschlagen. Sie wusste nicht, was sie mit dem Raum anfangen sollte, den sie früher nie in Anspruch hatte nehmen dürfen.
Aber Martin gab nicht auf. Zurückblickend war es ein Wunder, dass er diese Jahre ertragen hatte, in denen sie die Verlässlichkeit seiner Liebe immer wieder auf die Probe stellte. Viele Jahre und viele Gespräche später würde Martin erzählen, dass eins seiner Motive sein Studium der Soziologie gewesen war. Dass er fasziniert war von ihrem Verhalten, das sich so deutlich aus ihrer Herkunft ableiten ließ. Insgeheim hatte sie über sein Bekenntnis nachgedacht. Und trotz all der Zeit, die seitdem vergangen war, war sie traurig gewesen, hatte sich zum Studienobjekt degradiert gefühlt. Doch die Enttäuschung hatte sie sorgfältig verborgen, aus Angst, undankbar zu wirken. Denn es war Martin, der ihr geholfen hatte, die Erlebnisse ihrer Kindheit zu verarbeiten. Der sie in Nächten voller Angst in den Armen gehalten hatte, wenn die Verteidigungsmauern eingestürzt waren und sie meinte, innerlich zu zerbrechen. In einer Kombination von Therapeut und Liebhaber hatte er sie durch den Schmerz gelotst, wenn sie sich eng beieinander in das Land ihrer Kindheit begeben hatten, um zusammen die Fesseln zu lösen, die sie gefangen hielten. Jeder Stein wurde umgedreht und jeder Wurm seziert. Als sie schließlich gewagt hatte, das Schwärzeste zu offenbaren, die Erinnerung, die an dem innersten Kern gezehrt hatte, war seine Liebe trotzdem unerschütterlich geblieben. Als der Schmerz abgeklungen war und sie akzeptiert hatte, dass nichts ungeschehen gemacht werden konnte, war sie endlich die geworden, die sie sein wollte. Die Gefühlsstürme, denen sie früher machtlos ausgeliefert gewesen war, hatten sich gelegt. Ihre Karten waren neu gemischt worden.
Die Verwandlung, die sie während ihrer gemeinsamen Jahre durchgemacht hatte, war so tiefgreifend, dass ein Teil ihrer Erinnerungen jemand anderem zu gelten schien. So vieles in ihr hatte sich verändert.
Jetzt, im Nachhinein, als sie über ihre Ehe nachdachte, wurde es deutlich, dass die ersten fünf Jahre ihre intimsten gewesen waren. Manchmal dachte sie, es sei vielleicht das Projekt Helena Alkoholikertochter, dem sein vorrangiges Interesse gegolten hatte. Liebe, verflochten mit leidenschaftlichem Rehabilitierungseifer. Die neue Helena war unter seinen Fingern herausmodelliert worden, und sie hatte versucht, die zu werden, von der sie glaubte, dass er sie haben wollte – eine relativ unkomplizierte Frau, die endlich auf eigenen Beinen stehen konnte. Vielleicht war das Resultat zu einer Enttäuschung geworden. Vielleicht hatte ihm das zu Tode erschrockene Geschöpf gefehlt, das bis zuletzt Distanz gehalten hatte, dann aber von seiner Führung in die dunklen Verstecke der Seele abhängig geworden war. Für sie eine Albtraumreise, für ihn eine Art der Fortbildung. Kundig in Begriffen und ursächlichen Zusammenhängen, aber selbst mit
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