Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine zweite Chance

Eine zweite Chance

Titel: Eine zweite Chance Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Alvtegen
Vom Netzwerk:
mangelnder Erfahrung war er vollständig unfähig gewesen zu verstehen, wie sie eigentlich empfunden hatte.
    Vielleicht war es doch die Anpassung, die ihre größte Begabung war. Die Erwartungen des Umfelds zu lesen und dafür zu sorgen, sie zu bedienen. Ein Chamäleon auf der Jagd nach Gemeinschaft, bereit, die Gestalt anzunehmen, die gewünscht wurde.
    Die Scheidung forderte eine neue Verwandlung. Sie befand sich in einem öden Übergangszustand. Diesmal stand sie allein da. Es gab keine Umgebung, nach der sie sich formen, niemanden, der ihr einen einzigen Leitfaden geben konnte.
    Die Frage war nur, wie viele Male ein Mensch es schaffte, sich zu verändern.
    Dann schlief sie ein, vollkommen erschöpft.

Kapitel 5
    Über der Tür des Zimmers, in dem Anders lag, hing eine Uhr. Da er sonst nichts tun konnte, betrachtete er in der Dunkelheit die gleichmäßigen Schritte des Minutenzeigers. In regelmäßigen Abständen wurde eine Minute der Vergangenheit hinzugefügt, in demselben Takt, in dem seine Zukunft verkürzt wurde. Ihm war es egal. Für ihn war der Tod nicht dramatischer, als nicht mehr da zu sein. Was ihn hingegen störte, war, dass die Lebensmüdigkeit, die er empfand, eigentlich nicht bedeutete, dass er aufhören wollte zu leben. Ganz im Gegenteil, er hatte das Gefühl, dass so vieles noch ungetan war, doch sein Tatendrang war durch ein ihm unbegreifliches Gefühl des Scheiterns wie gelähmt. Er verstand nicht, warum, und manchmal fürchtete er, den Verstand zu verlieren.
    Da waren all diese Gedanken. Endlose Grübeleien und sinnlose Fragen, die weder er noch sonst jemand beantworten konnte. Alles Mögliche konnte eine verwickelte Gedankenkette auslösen. Sein Blick richtete sich wieder auf die Uhr, auf der die Zeiger weiterhin sein Leben verkürzten.
    Wo war die Zeit, die vergangen war? Woher kam diejenige, die wartete? Was war Zeit anderes als ein Maß des Abstands zwischen verschiedenen Ereignissen? Zuverlässig war sie nur, solange man mit dem Blick auf die Uhr ihrem Gang folgte. Schaute man weg, konnte die Zeit davonrasen oder sich verlangsamen, je nachdem, womit sie gefüllt wurde. Wie konnte man behaupten, sie sei konstant, wenn gewisse Augenblicke auf all die folgenden abgefärbt hatten?
    All diese Entscheidungen, die er getroffen hatte, und diejenigen, die er niemals traf.
    Wenn man mit »freiem Willen« die Fähigkeit des Menschen meinte, die Aufmerksamkeit dorthin zu lenken, wo man wollte, wie viel freier Wille blieb dann übrig von dem, was geschah, wenn die Schale noch weich war und die Ereignisse besonders tief prägen konnten?
    Man wird erst sehr spät vergessen können, was geschehen ist.
    I look at the world and I notice it’s turning,
While my guitar gently weeps
    Das siebte Stück auf der ersten Seite des weißen Doppelalbums der Beatles. Sein Zufluchtsort, als er mit neun Jahren eingesehen hatte, dass die Welt ein trügerischer Ort war, weil die Fundamente so leicht nachgeben konnten. Nichts würde je mehr so werden, wie es sein sollte. Deshalb schuf er sich mit einem ihrer Lieblingslieder eine Welt, in der alles andere auf Abstand gehalten wurde.
    Wie ein Blinder begab er sich in die Melodie hinein. Mit dem Leben als Einsatz tastete er nach den Tönen und ließ sie auf der Gitarre wieder auferstehen. Kein Gedanke durfte entwischen. Monatelang mühte er sich ab, Ton für Ton, die LP wurde von all den Wiederholungen verkratzt, und die Fingerspitzen häuteten sich, aber umhüllt von Eric Claptons Gibson war das Leben erträglich. Was er nicht in Worte fassen konnte, drückte er auf der Gitarre aus, sie wurde sein Zeuge und Übersetzer. Mit ihr in den Händen wagte er zu fühlen. Die Trauer bekam einen Ton und wurde zugleich auch der Kraft beraubt, ihn zu vernichten.
    Er ging zur Schule, wie er sollte, aber jeden Nachmittag eilte er nach Hause. Die Treppe hinauf und in sein Zimmer hinein. Die Musik wurde zu einer Atempause, einem Versteck, während die Zeit weiterging. Als er sich schließlich aus dem geschützten Raum der Musik hinauswagte, hatte die Umgebung wieder Farbe bekommen, und zu seinem Erstaunen konnte er die Luft wieder einatmen. Das Neue war das Gewöhnliche geworden.
    Damals waren es er und die Gitarre gegen die Welt.
    Die Sparbüchse wurde geplündert, und für das Geld kaufte er Schallplatten. Aber er lauschte nicht, er zerlegte sie, zerbrach sie in ihre Bestandteile und setzte sie mit grenzenloser Hartnäckigkeit und irrsinnigem Verlangen auf der Gitarre wieder zusammen.

Weitere Kostenlose Bücher