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Einen solchen Himmel im Kopf: Roman (German Edition)

Einen solchen Himmel im Kopf: Roman (German Edition)

Titel: Einen solchen Himmel im Kopf: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi , Stephanie Gleißner
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Rosenkranz ganz besonders und daher auch die Feiertage, an denen sie sich verkleiden und ihn fortwährend skandieren dürfen. Sie mögen den neuen Pfarrer nicht, der sie immerzu ausbremst beim Beten, der nicht richtig singen kann, der zu viel redet.
    Wir trafen die Hinterlandbewohner täglich auf ihren Wegen zum Friedhof und Metzger, wir wussten, in welchen Hollywoodschaukeln sie im Hinterland
     träumten, auf welchen Eckbänken, an welchen Stammtischen sie einschliefen und sich beim Erwachen benommen die Speichelfäden aus den Mundwinkeln
     wischten. Wir wussten, wenn am Fenster eine Kerze angezündet wurde, wer gestorben war, dass es nicht viel bedeutete, dass man hier kein großes Aufheben um
     den Tod macht, nur um die Gräber. Wir wussten, wie wir sie zu grüßen hatten, manche schon von weitem, laut und ausführlich mit Fragen nach dem Befinden
     der übrigen Familienmitglieder, anderen genügte ein leichtes Nicken, auch Johanna wusste das, aber sie hielt sich nicht daran. Sie sorgte mit ihrem »Guten
     Tag« oft für Verstimmungen. Ob sie denn nicht wisse, wo sie herkomme, fuhren sie die Hinterlandbewohner dann an. Doch Johanna ließ sich davon nicht
     beeindrucken, sie wusste, wohin sie gehen würde, sie war bereits auf dem Weg dorthin, und dieser Ort lag sicher nicht im Hinterland.
    Als Johanna mir ihre Hefte – das Hinterland- und das Heiligenheft – zum ersten Mal zeigte, zierte sie sich. Ich glaube, sie hatte Angst, dass ich sie nicht verstehen und dann dumme Fragen stellen würde. Johanna mochte keine Fragen, und bei Dingen, die etwas mit ihr persönlich zu tun hatten, verlangte sie, dass man intuitiv verstand. Fragen hätte bedeutet, nicht auf einer Wellenlänge mit ihr zu sein, und dann war man der Teilhabe an ihrer so spärlich sich offenbarenden Persönlichkeit sowieso nicht wert. Ich übte mich also darin, Fragen zu vermeiden und eine Aura des Eingeweihtseins und der Seelenverwandtschaft zu beschwören. Als sie das Hinterlandheft öffnete, mir Klebstoffgeruch entgegenschlug und ich die Bilder sah, musste ich nichts vortäuschen, ich verstand sofort. Es waren verwackelte, unscharfe, schlecht ausgeleuchtete Fotos. Fotos ohne Zentrum, Fotos wie die Schnappschüsse eines Kindes mit Einwegkamera. Schau mal! Hier, die schöne Rokokokirche, willst du die nicht fotografieren, sagt der Vater zu dem Kind, und es macht klick, und tatsächlich, am Rande ist etwas Rokoko, aber nur ein Ausschnitt rechts oben im Bild, gerade genug, um die lange Reihe geparkter Autos – Mercedes, BMW und panzerartige Landrover –, die zwei Drittel des Bildes bedeckt, verorten zu können: Sonntag im Hinterland, Kirchgang der Einheimischen, Familien, die gemeinsam ein über Generationen vererbtes Haus mit An- und Aufbauund einem großen Fuhrpark bewohnen, fahren im Auto vor, jedes fahrtüchtige Familienmitglied mit seinem eigenen. Ein anderes Bild zeigte einen Ausschnitt der Mariä-Himmelfahrt-Prozession, den Frauentag, ein beliebtes Ereignis bei Touristen und der Lokalpresse, ein Feiertag, an dem man »die tief verwurzelte, ursprüngliche Volksfrömmigkeit hautnah miterleben« kann. Auf Johannas Foto waren die brachialen Frauengestalten mit ihren Otterhauben, Kropfketten und Kräuterbuschen als Masse nur verschwommen erkennbar, scharf gestellt war ein winziges Detail: die kräftige, mit Altersflecken und hervortretenden Adern überzogene Hand einer Frau, vor dem lieblichen Blümchenmuster ihres Trachtenrocks zur Faust geballt. Auf einem anderen Bild kniete eine junge Frau auf allen vieren auf dem Pflaster in der Garageneinfahrt und pulte das Unkraut aus den Ritzen zwischen den Steinen. Das letzte Bild, das sie mir an jenem Nachmittag zeigte, war auf dem örtlichen Friedhof an einem der Tage vor Allerheiligen aufgenommen. An den Gräbern herrschte reger Betrieb. Sie waren umgeben von Zwergenwerkzeug, Gartenscheren und kleinen Rechen, mit denen die Graberde zu gleichmäßigen Striemen gepflügt wurde. Grabsteine wurden poliert und die Spuren der Witterung an den Grabeinfassungen mit Hochdruckreinigungsgeräten getilgt. Vorne im Bild war ein gebrechlich aussehender alter Mann zu sehen, ein Einheimischerin Lodenhosen und Strickjanker. Er stand schräg neben dem Grabstein und hielt eine Spraydose vor die eingravierten Namen seiner Angehörigen. »Gegen Ungeziefer und Insekten«, ergänzte Johanna.
    Ins Heiligenheft klebte Johanna Fotos von Heiligengemälden aus verschiedenen Epochen und Stilen, darunter auch Ikonen, und

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