Einen solchen Himmel im Kopf: Roman (German Edition)
1.
Ich werde zurückkehren. Natürlich nur zu Besuch, ein paar Tage, aber auch das erst nach einigen Jahren, in denen ich mich so verändert haben werde, dass sie mich nicht sofort wiedererkennen. Ich werde es nicht zulassen, dass sie mich nicht wiedererkennen. Ich werde stehenbleiben vor ihren Gartenzäunen, und auch vor den Bänken der Alten vor der Kirche werde ich stehen und ihnen ins Gesicht schauen und den Blick nicht abwenden. Ich werde zuschauen, wie es in ihren Köpfen zu rattern beginnt, wie sie denken: Das Gesicht kenne ich doch irgendwoher, und in dem Moment, wo ich sehe, dass sie das denken, werde ich glasklar mit einer Stimme und Miene, die ich jetzt noch nicht zustande bringe, die ich mir aber bis dahin angeeignet haben werde, sagen: »Guten Tag«, und dahinter ein Herr oder Frau und die jeweiligen Namen setzen, die richtigen Nachnamen, nicht die Hausnamen, denn die werde ich bis dahin vergessen haben, aber ihre offiziellen Namen werde ich ablesen von den Schildchen an den Gartentoren. Es ist wichtig, dass ich »Guten Tag« sage, Hochdeutsch, keinDialekt, nicht die Spur eines Dialekts. Alle Wörter werden ganz sauber klingen. Und dann gehe ich weiter und wiederhole das Ganze am nächsten Haus, am nächsten Gartenzaun.
Ich werde an einem Sonntag im Frühling zurückkehren, am späten Vormittag, wenn die Männer sich nach der Kirche im Biergarten besaufen. Ich werde an ihnen vorbeigehen und meinen Schritt nicht beschleunigen, nicht so wie jetzt, Johanna, ich werde ihnen direkt ins Gesicht schauen. Sie werden sagen: Das sind doch alles dieselben Banditen, sie werden sagen, dass sie da die Hand nicht umdrehen, und sich dabei über ihre Gläser beugen, Bierschaum in Bärten und Mundwinkeln. Doch wenn ich zurückkehre und an ihnen vorübergehe und ihnen direkt ins Gesicht schaue, werden sie verstummen mitten im Satz. Schweigen. Keine widerliche Bemerkung, kein Hinterherpfeifen. Wenn ich jetzt an ihnen vorübergehe, reden sie über mich. Sie senken noch nicht einmal ihre Stimme, aber dann, wenn ich zurückkehre und an ihnen vorübergehe, werden sie schweigen.
Johanna hatte, wie es ihre Art war, den Kopf zur Seite geneigt, den Blick, um durch nichts Äußeres abgelenkt zu werden, schräg auf den Boden gerichtet wie eine alte Person, die schlecht hört und sich deshalb so auf die Akustik konzentrieren muss, dass sie über die Bedeutung der Laute erst später nachdenken kann. Johanna verlangsamte dann auch noch ihrenSchritt, während ich das Bedürfnis hatte, schneller zu gehen, um mit meinen Worten und Sätzen mithalten zu können. Als ich ausgesprochen hatte, blieb sie stehen: »Ich glaube nicht, dass es so sein wird«, sagte sie, »ich glaube, dass hier immer alles gleich bleiben wird.« Mehr sagte sie nicht.
Johanna sagte selten mehr als drei Sätze am Stück. Sie war nicht schüchtern. Sie war hochmütig. Sämtliche Bekundungen von Individualität, wie sie für Pubertierende üblich sind, widerten sie an. Sie belächelte die Mädchen auf dem Pausenhof, die in Gruppen zusammenstanden, dümmlich und so selbstverständlich wie grasende Tiere. Sie nestelten einander in den Haaren herum und kultivierten eine aufdringliche Art der Innerlichkeit. Sie sprachen lautstark über IHRE Gefühle und IHRE Gedanken, sie deuteten ihre oftmals auch nur erfundenen Träume mit einer Ernsthaftigkeit, die mich rührt und erschüttert, wenn ich sie heute im Supermarkt an der Kasse sitzen sehe oder im Sonntagsstaat einer Provinzmutter den Kinderwagen schiebend, der Mann beim Frühschoppen oder fünf Schritte voraus, aber nie neben ihnen, diese Mädchen, die einmal von ihren nächtlichen Träumen gesprochen hatten, als seien sie Goldklumpen, die, versehentlich zutage gefördert, kurzzeitig die Hoffnung auf eine ganze Goldader, ein Innenleben geschürt hatten. Sie hatten tatsächlich geglaubt, der Eintönigkeit ihres Schülerdaseinszu entkommen, wenn sie ihre Federmäppchen und Schultaschen mit Edding beschmierten, ihre Füße in Doc Martens einschnürten und sich die Haare mit immer neuen Farben ruinierten. Die Eltern zeigten Verständnis, fühlten sich an ihre eigene Schulzeit erinnert. Sie sagten, dass das die schönste Zeit gewesen sei.
Johanna begann ihre Sätze mit »Es« und »Man«. Sie sagte nicht »Ich«. Wenn sie gezwungen war, im Deutschunterricht einen Beitrag zu den leidigen Pro-und-contra-Diskussionen zu liefern, die uns gegen Ende der Mittelstufe zu kritisch denkenden Menschen erziehen sollten, sprach sie sehr
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