Einer trage des anderen Schuld
schüttelte vehement den Kopf und riss die Hände hoch, um ihn abzuwehren. »Nein! Du lügst …!«
»Es tut mir leid …«, begann er.
»Dir – leid? Nichts tut dir leid! Es ist deine Schuld, dass das geschehen ist! Wenn du nicht deine Karriere vor das Wohl deiner Familie gestellt hättest …«
»Ich konnte ihn nicht verteidigen.« Rathbone glühte vor Empörung über diesen ungerechten Vorwurf. »Er war schuldig, Margaret. Er hat Mickey Parfitt ermor…«
Sie schnitt ihm das Wort ab. »Parfitt war Ungeziefer! Er hat es nicht anders verdient.«
»Und Hattie Benson?«
»Sie war eine Prostituierte, eine Hure, die lügen wollte, um Rupert Cardew zu schützen.«
»Ihn schützen? Wovor? Er hat Parfitt ja gar nicht umgebracht. Und du hast gerade gesagt, dass Parfitt den Tod verdient hat. Du kannst nicht beides gleichzeitig haben.«
Tränen flossen ihr über die Wangen. »Mein Vater ist ermordet worden«, schrie sie, nach Luft ringend, »und du stehst herum und rechtfertigst dich! Du widerst mich an! Ich habe dich so sehr geliebt, weil ich dachte, du wärst tapfer, auf der Seite deiner Familie und würdest für die Wahrheit kämpfen. Jetzt sehe ich, dass du nichts als ehrgeizig bist. Du weißt ja nicht einmal, was Liebe ist!«
Er fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen. Regungslos blieb er stehen, während sie sich abwandte und zur Tür stakste. In der Vorhalle blickte sie noch einmal zurück. »Ich gehe heim, mich um meine Mutter kümmern. Sie wird mich brauchen. Meine Sachen werde ich holen lassen.« Ihre Seidenkleider rauschten, ihre Schuhe klapperten über den Boden, dann war sie verschwunden.
Rathbone war wie betäubt. Er hatte das Gefühl, noch gar nicht ermessen zu können, wie bekümmert er war, wie tief seine Wunde war und ob sie jemals heilen würde.
Der Himmel war so trüb, dass schon um fünf Uhr nachmittags die Nacht dämmerte. Als Monk heimkam, verbreitete das prasselnde Kaminfeuer im Salon bereits Licht und Wärme, und Hester und Scuff saßen davor. Auf dem Tisch zwischen ihnen stand eine Teekanne, und sie verzehrten heiße Crumpets. Scuff hatte sich das Hemd mit Bröseln bekleckert. Er hockte in Monks Stuhl und zog bei dessen Eintreten eine schuldbewusste Miene, blieb aber, wo er war. Offensichtlich wollte er abwarten, was geschah, und vielleicht auch ausloten, wie weit er schon dazugehörte.
Hester stand auf und ging Monk entgegen. Liebevoll küsste sie ihn auf die Wange, dann auf die Lippen. Er legte beide Arme um sie und hielt sie fest an sich gedrückt, bis sie sich von ihm löste.
»Ich weiß es schon«, sagte sie leise. »Crow war da und hat es uns gesagt. Jemand hat Ballinger in seiner Zelle ermordet.«
Monk schaute an ihr vorbei zu Scuff hinüber. Der Junge beobachtete ihn, das Kuchenstück in der Hand, während die geschmolzene Butter auf sein Hemd troff. Seine Augen waren weit geöffnet.
»Anders wäre es mir lieber gewesen«, erklärte Monk. »Aber vielleicht hat die Sache damit ein Ende gefunden. Für Rathbone und Margaret ist das natürlich entsetzlich, aber wir hätten sowieso nichts tun können.«
Scuff beobachtete Monk immer noch.
Der ältere Mann grinste ihn an. »Keine krummen Geschäfte mehr auf dem Fluss.«
»Was is’ mit den Bildern, nach denen Sie gesucht haben?«
»Das weiß ich nicht. Vielleicht sind sie zerstört worden, vielleicht auch nicht. Falls die Männer darauf erpresst werden, zerbrechen wir uns dann den Kopf darüber, wenn wir davon erfahren. Iss deinen Crumpet auf, bevor er kalt wird.«
Grinsend biss Scuff in sein Kuchenstück und verstreute noch mehr Brösel auf dem Boden und auf Monks Sessel.
»Beim nächsten Mal ist der Sessel wieder meiner«, sagte Monk mit einem Nicken.
Scuff versank noch etwas tiefer in den Kissen und hörte nicht auf zu grinsen.
Epilog
Kodizill zu Arthur Hall Ballingers Testament und Letztem Willen.
Meinem Schwiegersohn, Oliver Rathbone, hinterlasse ich meine gesamte Fotografieausrüstung: Kameras, Stative, Beleuchtung, fotografische Platten sowie die entwickelten Negative.
Die Gegenstände befinden sich in meinem persönlichen Tresor im Kellergewölbe meiner Bank.
Ich nehme an, dass es so etwas wie Himmel oder Hölle gibt, von wo aus ich mitverfolgen kann, was er damit macht.
Arthur Hall Ballinger
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