Einer trage des anderen Schuld
am Execution Dock hatte Scuff sich hier eingerichtet, wagte sich tagsüber kaum hinaus und warf sich in den Nächten, von Alpträumen gepeinigt, in seinem Bett hin und her. Er sprach nie darüber, und sein Stolz verbot es ihm, ausgerechnet Hester gegenüber zuzugeben, dass er vor Dunkelheit, geschlossenen Türen und besonders vor dem Schlaf Angst hatte.
Natürlich wusste sie, warum. Kaum entglitt ihm die strenge Kontrolle, die er in wachen Stunden über sich ausübte, lag er wieder verkrümmt unter der Falltür zum Kielraum des Bootes, eingesperrt neben der halb verwesten Leiche des vermissten Jungen, deren Gestank bei ihm einen permanenten Brechreiz auslöste, und kämpfte gegen das wirbelnde Wasser und die Ratten.
In seinen Alpträumen schien es keine Bedeutung zu haben, dass er jetzt wieder frei und Jericho Phillips tot war. Dabei hatte er dessen Leiche selbst gesehen, gefangen in einem Eisenkäfig im Fluss. Sein Mund war weit aufgerissen, als ihn die steigende Flut umschloss und seine Stimme für immer erstickte.
Hester hörte das Geräusch erneut und glitt aus dem Bett. Sie hüllte sich in einen Morgenrock, nicht so sehr, weil sie in der Spätseptembernacht fröstelte, sondern um Scuff nicht in Verlegenheit zu bringen, falls er wach war. Lautlos huschte sie durch das Schlafzimmer und über den Flur. Die Tür zu seinem Zimmer hatte sie mit Bedacht weit offen gelassen, damit er jeden Moment einfach hinauslaufen konnte. Die Gaslampe brannte auf kleiner Flamme, wodurch die Illusion erhalten bleiben konnte, Hester hätte vergessen, sie vor dem Zubettgehen auszublasen. Keiner von den beiden sprach dieses Thema jemals an.
Scuff lag klein und verkrümmt zwischen den Laken und halb zu Boden gerutschten Decken. Seine Haltung war genau dieselbe wie damals, als Sutton, der Rattenfänger, die Falltür zum Kielraum aufgestemmt hatte.
Ohne lange zu überlegen, trat Hester in das Zimmer, hob die Decken auf, breitete sie über dem Jungen aus und stopfte sie an den Rändern behutsam unter die Matratze, damit sie nicht gleich wieder herunterrutschten. Erneut stieß Scuff ein Wimmern aus, dann zog er die Decke höher, als wäre ihm kalt. Hester blieb bei dem Bett stehen und beobachtete ihn. Im matten Schein der Gaslampe konnte sie sehen, dass er immer noch träumte. Seine Züge waren angespannt, seine Augen fest geschlossen und seine Zähne aufeinandergepresst. Immer wieder bewegte sich sein Körper, und dann schossen seine Hände in die Höhe, als griffen sie nach etwas.
Wie konnte sie ihn wecken, ohne seinen Stolz zu verletzen? Er würde es ihr nie verzeihen, wenn sie ihn wie ein Kind behandelte. Und doch waren seine Wangen so glatt, sein Hals so zierlich und seine Schultern so schmal, dass noch nichts den Mann in ihm verriet. Er behauptete, er sei elf Jahre alt, sah aber eher aus wie neun.
Welche Lüge würde er nicht durchschauen? Sie konnte ihn nicht wecken, ohne damit stillschweigend zuzugeben, dass sie ihn im Traum hatte weinen hören. Schließlich wandte sie sich um, kehrte zur Tür zurück und ging ein Stück weit in den Flur hinaus. Unvermittelt hatte sie eine Idee. Auf Zehenspitzen lief sie die Treppe zur Küche hinunter, wo sie ein Glas Milch einschenkte und vier Kekse auf einen Teller legte. Damit stieg sie wieder nach oben, sorgfältig darauf bedacht, nicht über ihren Morgenrock zu stolpern. Im Flur angekommen, knallte sie absichtlich den Wäscheschrank zu.
Ihr war klar, dass sie damit womöglich auch Monk weckte, aber das ließ sich nun einmal nicht ändern.
Als sie in Scuffs Zimmer trat, lag der Junge mit weit aufgerissenen Augen im Bett, die bis zum Kinn hochgezogenen Decken fest umklammert.
»Du bist wach?«, fragte sie in einem Ton gelinden Erstaunens. »Ich bin es auch. Ich habe mir Milch und Kekse geholt. Möchtest du die Hälfte davon haben?« Sie zeigte ihm den Teller.
Scuff nickte. Er sah, dass es nur ein Glas war, aber auf die Milch kam es ihm nicht an. Was zählte, war die Gelegenheit, wach und dabei nicht allein zu sein.
Hester trat ein, wobei sie die Tür nur anlehnte, und setzte sich auf die Bettkante. Das Glas stellte sie auf dem Tisch neben ihm und den Teller auf den Decken ab.
Scuff nahm einen Keks und knabberte daran, ohne Hester aus den Augen zu lassen. Seine Pupillen waren im matten Lampenlicht groß und dunkel. Er wartete darauf, dass sie etwas sagte.
»Ich mag es nicht, so spät in der Nacht nicht schlafen zu können«, begann sie und biss sich auf die Lippe. »Eigentlich habe ich
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