Einmal breifrei bitte
die Vergangenheit. In die Menschheitsgeschichte. Denn so neu und frisch uns unsere Kinder erscheinen, sie haben doch eine lange Geschichte hinter sich. Wie Kinder sich entwickeln, hat sich in der Menschheitsgeschichte eingeschliffen, von Generation zu Generation. Das Muster, nach dem sie groß werden, hat sich als Antwort auf die Herausforderungen gebildet, vor denen die Kinder in der Geschichte immer wieder standen. Sie mussten es ja immer wieder schaffen, die Kurve ins Erwachsenenleben zu kriegen. Und zwar erfolgreich.
Und dabei stellte sich ihnen auch ein Problem, das uns heute ellenlange Tabellen und viel Kopfzerbrechen beschert: Sie mussten die richtige Beikost bekommen. Anders wären sie nicht groß und stark geworden – und unsere Vorfahren am Beikost-Problem gescheitert.
Dass sie das nicht sind, verdanken wir einer bemerkenswerten Tatsache: Beikost ist nämlich eigentlich alles andere als schwierig. Denn evolutionär betrachtet waren ein paar Dinge unverhandelbar:
Wenn Beikost gegeben wurde, so bestand die Wahl nicht zwischen Stracciatella-Nachtisch oder Artischockenpüree. Die Wahl fiel vielmehr mitten in den mütterlichen Speiseplan. Das war bei einem Kind vielleicht leckerer Fisch, bei einem anderen waren es leckere Früchte. Als Beikost gab es nun einmal das, was die Eltern, Geschwister und Freunde aßen – mund- und altersgerecht dargeboten.
Das war nicht nur praktisch, sondern hatte auch den Vorteil, dass dem Kind diese Nahrungsmittel schon vertraut waren – schließlich kannte es die entsprechenden geschmacklichen Spuren bereits aus dem Mutterleib und von der Muttermilch. Auch dem reifenden Immunsystem des Babys waren die beigefütterten Lebensmittel bekannt, Abwehrreaktionen waren also nicht zu erwarten.
Unverhandelbar war auch das: Es gab keinen »Fahrplan«, der für alle galt! Das ist leicht verständlich: Für ein im Winter geborenes Kind sah das »Beikost-Schema« nun einmal völlig anders aus als für ein im Sommer geborenes!
Und aus Skelettfunden lässt sich ableiten, dass die evolutionäre Beikost gröber war als heute üblich – eine Fehlstellung der Kieferknochen wird nämlich erst seit dem 17. Jahrhundert in nennenswerter Häufigkeit beobachtet. Dies deutet auf eine insgesamt »härtere« kleinkindliche Kost hin. Schließlich ist es der Muskelzug beim Kauen, der den Kiefer formt und die Stellung von Ober- und Unterkiefer bestimmt.
Und anzunehmen ist auch etwas Weiteres: Die Kleinen hatten mehr zu tun, als ihren Brei auszulöffeln. Zum einen, weil der Pürierstab noch nicht erfunden war. Und zum anderen, weil das Essen mangels Kühlschrank und Lagerhaltung frisch zubereitet wurde. Heute bekommt man manchmal den Eindruck, das Essen kleiner Kinder bestehe darin, dass sie brav den Mund aufmachen und eine bestimmte Menge speziell für Babys gefertigter Spezialkost in einer vom Hersteller auf dem Etikett vermerkten Menge eingelöffelt bekommen. Diese passive Form der Nahrungsaufnahme widerspricht allem, was wir heute über kleine Kinder wissen: dass sie nämlich ihren Alltag, ihre Beziehungen und ihre Erkundungen mitgestalten wollen. Dass sie »selbstwirksam« sein wollen, wie Entwicklungspsychologen das nennen. Babys wollen mitmachen. Und das gilt auch für so etwas Zentrales, Wichtiges und Wunderbares wie das Essen. Es gibt viele Gründe, warum Babys nicht druckbetankt, belöffelt und bespielt werden wollen. Und es gibt viele Gründe, warum alle in der Familie von einem etwas entspannteren Zugang zum Thema Beikost profitieren.
Aber lassen Sie sich diese Geschichte in diesem spannenden Buch von einer »Mutti-Expertin« und einer echten Beikost-Spezialistin erzählen. Viel Spaß beim Lesen!
Dr. med. Herbert Renz-Polster
Kinderarzt und Autor
www.kinder-verstehen.de
Alles B(r)eikost – oder was?
Bevor es nun wirklich losgeht, vorab noch ein paar erklärende Worte zur Form. Im ersten Teil des Buches haben wir versucht, alle Themen theoretisch zu beleuchten, die mich während unserer von Eva Nagy professionell begleiteten Abenteuerreise interessierten und umtrieben. Daher »spricht« hier meist die Expertin, ich gebe meinen Endverbraucher-Senf nur als »Mutti-Notiz« dazu, wenn es mir themenbezogen sinnvoll scheint. Des Weiteren haben wir, weil so etwas heutzutage ja elektronisch dokumentiert bleibt, zwei meiner Original-Mails an Eva mit hineingenommen.
So viel zum organisatorischen Unterbau des theoretischen Parts. Danach folgt dann das Tagebuch, das ich praktischerweise vom ersten
Weitere Kostenlose Bücher