Die Häupter meiner Lieben
Elefantengrau
Wenn ich im Bus zum Mikrofon greife und den deutschsprachigen Touristen Florenz vorführe, dann hält man mich für eine Romanistikstudentin, die ihr Taschengeld aufbessern will. Sie finden mich reizend; ein altes Ehepaar sagt mir ins Gesicht, daß sie sich ein Mädchen wie mich als Tochter wünschten. Sie haben immer noch nicht gelernt, daß das äußere und innere Bild eines Menschen nicht übereinstimmen muß.
Meine Touristen beginnen hier im allgemeinen ihre Toskanareise und können die Nullen der Lire nicht rasch genug einschätzen. Man könnte annehmen, daß das Trinkgeld deswegen zu hoch ausfällt, aber leider ist das Gegenteil der Fall. Um wenigstens einigermaßen auf meine Kosten zu kommen, warne ich meine Schäflein am Ende der Rundfahrt vor Diebstahl und Handtaschenraub und erzähle ihnen als abschreckendes Beispiel die Geschichte einer Rentnerin aus Leipzig, der alle Verwandten zum siebzigsten Geburtstag eine Italienreise schenkten, ein lang gehegter Herzenswunsch. Vor wenigen Tagen habe man ihr das ganze Geld gestohlen. Ich lasse eine Zigarrenschachtel herumgehen, um für die Rentnerin zu sammeln. Die meisten lassen sich nicht lumpen, denn der Nachbar schaut zu.
Wenn die Tour beendet ist, teile ich mit Cesare, dem Busfahrer. Das ist gewissermaßen Schweigegeld, damit er der Agentur nichts von der sächsischen Tante verrät.
Cesare sagt mir Skrupellosigkeit nach. Natürlich liegen die Wurzeln einer solchen Eigenschaft in der Kindheit; in meinem Fall war es eine dumpfe Zeit der Schwermut und Verlorenheit, die wie ein grauer Bleiklumpen meinen Seelenmüll beschwert. Erst als ich Cornelia kennenlernte, ging es mit mir bergauf, und ich begann damit, krankmachende Elemente auszuschalten.
Als Kind bekam ich nie, was ich brauchte. Dabei wußte ich nicht einmal genau, was ich nötig hatte; heute ist mir klar, daß es Wärme und Fröhlichkeit sind. Wie jeder Mensch will ich geliebt werden, ich will ein bißchen Witz und Abenteuer; ich mag Freunde, die Humor haben und schlagfertig sind. Eine Prise Bildung und Kultur sollte nicht fehlen. Das alles gab es zu Hause nicht. Verbitterung war die Grundhaltung. Später nahm ich mir einfach, was mir fehlte; dabei bin ich wohl gelegentlich über das Ziel hinausgeschossen.
Meine Mutter sprach wenig, aber was sie sagte, war von präziser Bosheit. Sicher war das eine der Ursachen für mein unerschöpfliches Reservoir an verdrängter Wut, die sich gelegentlich heftig entladen mußte.
Schon als ich sehr klein war und beim Mittagessen eine naive oder spontane Mitteilung wagte, konnte ich nicht übersehen, daß mein verhaßter Bruder und meine Mutter einen sekundenschnellen Blick des Einverständnisses wechselten. Dieser Blick sagte mir, daß sie bereits oft über mich und meine Unbedarftheit gesprochen hatten und es auch in Zukunft häufig tun würden. Ich pflegte dann für Wochen zu verstummen. Mein unterdrückter Jähzorn ließ mich verschlagen werden.
Als mein Bruder Carlo vierzehn und ich zehn war, stahl ich seine heimlich gekauften Zigaretten und warf sie auf dem Schulweg in fremde Mülltonnen. Da er mich für feige und dumm hielt und überdies wußte, daß es mir gleichgültig war, ob er rauchte oder nicht, hat er mich nie verdächtigt. Er war sich sicher, daß unsere Mutter ihm auf die Schliche gekommen war und auf diskrete Weise dafür sorgte, daß er seine Gesundheit nicht ruinierte.
Ich wurde zur Diebin. Man hat mich nie beschuldigt, weil der Bestohlene davon ausging, daß ein Dieb seine Beute besitzen möchte. Was soll ein kleines Mädchen mit Zigaretten anfangen? Was nützt ihm das Parfüm seiner Tante, wenn doch jeder den teuren Duft sofort riechen kann? Ich stahl damals Hausschlüssel, Pässe und Lehrerbrillen, um sie wegzuwerfen; L'art pour l'art. Erst Jahre später habe ich gestohlene Gegenstände behalten.
Vielleicht hätte ich mich anders entwickelt, wenn mich mein Vater nicht so früh verlassen hätte. Ich sage bewußt, daß er mich und nicht unsere Familie verlassen hat, denn so empfand ich es. Ich war sieben Jahre alt, als es geschah, und war bis dahin seine Prinzessin gewesen.
Wie in einer Renaissancekomödie gab es in unserer Familie zwei Liebespaare: ein hochstehendes - der König und die Prinzessin -, und ein Dienerpaar - meine Mutter und mein Bruder. Der König nannte mich »Prinzessin Maja«, später »Infantin Maja«. Er besaß ein Kalenderblatt mit der Abbildung spanischer Hofdamen, die ein Mädchen bedienen. Obgleich
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