Einsam, zweisam, dreisam
sprechen.
Heute kann er noch nicht anrufen, das steht fest. Das geht mir zu schnell, hat sie eben gesagt. Aber morgen. Ja, morgen auf jeden Fall.
Er kann eine Woche bleiben. Das heißt, er kann eigentlich bleiben, so lang er will. Er ist sozusagen frei.
Die Wohnung im Stuttgarter Westen hat er vor drei Tagen verlassen. Das Zimmer leerzuräumen war keine große Sache gewesen. Seine Bücher hat er verschenkt, seine Farben und die Staffelei bei seiner Mutter untergestellt, und alles, was er sonst besitzt, paßt in diesen Matchsack.
Vor einer Woche hat ihn Karin, seine langjährige «Beziehung», verlassen. Per Post. Auf Kreta über Ostern eine unheimlich intensive Beziehung aufgebaut und jetzt total das Bedürfnis, sich zu engagieren. Sollte sie. War ihm gerade recht. An seinem eigenen Aufatmen merkte er, daß ihm die ganze, auf die Bedürfnisebene hochgewuchtete Erlebnisgeschaftlhuberei nicht gutgetan hatte. Ohne große Enttäuschung zog er einfach aus, bevor sie aus dem Urlaub zurück war und dem «Bedürfnis, mit ihm die Situation zu klären», hätte nachkommen können.
Nicht einmal gewundert hat er sich. Das Ganze kam ihm schon viel zu bekannt vor. Genau derselbe Film lief ja dauernd neben ihnen ab. Warum sollte die Kamera nicht irgendwann auch mal auf sie gerichtet sein? Die Pärchen fangen an zu diskutieren, organisieren ihre Gemeinsamkeiten nach Stundenplan, entdecken plötzlich das Bedürfnis nach Freiräumen, in denen sie feste was für sich selbst entwickeln, und alle Freunde und Bekannten nehmen Anteil.
Dann wechseln die Bezeichnungen. Alles, was sich fühlen läßt, bekommt einen medizinischen, soziologischen oder psychologischen Namen. Wunsch heißt Bedürfnis, Lust heißt Orgasmus, Kummer heißt Probleme oder, besser noch, Problematiken. Plötzlich sind die Menschen Versuchskaninchen im eigenen Labor geworden. Sie geben sich selber die Spritze, schauen sich selber beim Zappeln zu und werfen sich schließlich selber in den Mülleimer. Der Kadaver ist nicht tot, nur unzufrieden. Er hat unheimlich das Bedürfnis, mit sich alleine klarzukommen. Deshalb geht er in Urlaub, wo er sich sofort verliebt. Damit ihm ein anderer wieder Leben einhaucht.
So ist das.
Sig ist nur über eines wirklich traurig. Daß er Karin, mit der er sechs Jahre gelebt hat, so einfach hinter sich lassen kann, wie man dreißig Bände Karl May hinter sich läßt: Ohne Bedauern, aber auch ohne das Gefühl, etwas mitzunehmen.
Noch bevor er auszog, grundierte er alle Porträts von Karin, bis auf eines, das er ihr zurückließ, neu, um sie zu übermalen. Er wird keine Menschen mehr malen. Überhaupt keine erkennbaren Dinge mehr. Das Erkennbare ist eh nur Stellvertreter für die reine Form. Oft hatte er das Gefühl, die Betrachter sehen nicht das Bild, sondern die Person darauf.
Er schiebt die Gedanken an Karin weg von sich. Sie soll ihn jetzt nicht stören. Schlittschuh-Unglück auf der Beziehungs-Ebene, denkt er, kann vorkommen.
Das ist sein Frühling. Nicht Karins. Die hat ihren eigenen. Mit Winfried oder Sebastian, oder wie die Männer, bei denen man sich echt engagieren will, eben heißen. Karins Frühling, denkt er hämisch, riecht nach frischgewaschener Latzhose, Turnschuh-Schweiß und einer auf den halben Preis runtergehandelten Ledertasche.
Sein Frühling riecht nach Urin, Staub und Koffer, nach Bratwurst und Taxiauspuff. Aber es ist seiner. Sein ganz eigener, uneinnehmbarer Originalfrühling.
«Mein erster zweiter Frühling», flüstert er ins Schließfach. Und weil Schließfächer ein Geheimnis behalten können, sagt er noch: «Ich bin froh, daß ich ihr meinen Geburtstag gestohlen hab.»
Das dunkle Schweigen der Schließfächer hat etwas angenehm Verbotenes, denkt er, muß ich mir merken.
Ab morgen kann er bei Andrea schlafen. «Mindestens eine Woche», hat sie gesagt. Es klang, als würde sie sich freuen. Für heute nacht muß er noch ein Hotel finden. Andrea ist nicht der Mensch, den man einen Tag vor der Verabredung überrascht.
Auf der geraden Straße vom Bahnhof zur Innenstadt läßt er einige Hotels, die zu teuer aussehen, links liegen. Ob er Andrea noch gern haben wird? Seit einigen Jahren haben sie nur noch brieflichen Kontakt miteinander. Er hat keine Ahnung, ob sie noch die Ecke in seinem Herzen ausfüllt, die er ihr seit jeher freigehalten hat.
Ein seltsamer Papagei geht da die Straße entlang. Sig sieht aus wie seine eigene Geburtstagstorte. Die Jeans und die violette College Jacke könnten der
Weitere Kostenlose Bücher