Einsam, zweisam, dreisam
Sigs alleskönnender Bruder, drei Einzelhändler, die ihn beim Zigarettenklauen erwischten, und so weiter.
Irgendwann war fast die gesamte, ihm bekannte Menschheit auf der Ausnahmen-Seite angelangt. Da endlich änderte er die Regel und fühlte sich besser.
Er fiel sogar regelrecht ins andere Extrem. Die so ziemlich letzte von ihm geliebte Person, seine Mutter, schoß er einen Tag vor seinem siebzehnten Geburtstag von der Liste. Sie platzte nämlich lärmend in das Orgelsolo von «A whiter shade of pale», riß seine tief in Meggis Schoß vergrabene Hand ans Licht und zeterte nicht nur seine Erektion, sondern auch die Hoffnung, je noch mal bei Meggi zu landen, hinweg.
Und Meggi war der feuchte Traum der ganzen Schule!
Ihr verächtlicher Abgang jagte ihm den Salzfluß der Enttäuschung aus den Augen und den Nagel des Hasses in die Seele. Fortan war in seinem Herzen nicht mehr viel Platz.
Lieb dich selbst, dann liebt dich Gott, sagte er sich immer wieder. Das sollte seine Maxime sein. Doch es wollte ihm nicht recht gelingen, sich selbst zu lieben. Geschweige denn, Gott irgendwelcher Ähnlichkeiten mit Sig Baumbusch zu zeihen.
Hotel Marina steht in blauem Neon über einer unscheinbaren Glastür. Die Rezeption hat den Charme einer Hausbar-Hobbyraum-Kombination für Partnertausch-Aktivisten. Ständiger Nachschub an Schuppen rieselt aus den wenigen, aber fettigen Haaren des Nachtportiers auf seinen kaum weniger fettigen Kragen.
Beim Nachschauen im Belegungsbuch beugt sich der Portier so weit vor, daß Sig den Impuls, die eine oder andere Schuppe vom Kragen zu pusten, unterdrücken muß. Es sind auch zu viele. Der Kragen sieht aus wie Bochum im Februar: schwarzweiß und eklig.
Er unterdrückt auch den Impuls, vor der Schnapsfahne des Mannes zu salutieren. Das ist nicht der Stil eines Kriegsdienstverweigerers, der immer aufspringt und abschaltet, wenn die Nationalhymne im Radio kommt.
Sig ist, als könne er die Erinnerung an Regina riechen und als wäre dieser Geruch unangreifbar sicher vor der Muffigkeit dieser Rezeption.
In bedächtigen Einzelschritten geht der Stabilo-Bleistift des Portiers die leeren Zeilen des Belegungsbuches entlang. Als stünden dort mit unsichtbarer Tinte die Namen geheimer Gäste. Endlich sagt der Mann: «Zimmer acht. Fünfundsechzig Mark mit Frühstück.»
Und Gespensterzuschlag, denkt Sig, denn hinter dem heublonden Haar des Portiers grinst ihm das aufgedunsene Tortengesicht eines rotbackigen, humpenstemmenden Mönches entgegen. Ein echter Frans Hals aus der Hertie-Kunstabteilung.
Sig füllt den Meldezettel aus. Name: Leonardo Baumbusch; Geburtsdatum: 22. 4. 1910; Geburtsort: Dessau; Beruf: Fluchthelfer; Nationalität: Ami.
Der Portier protestiert nicht. Ungelesen legt er den Zettel zur Seite und sagt: «Angenehme Ruhe.»
Auf dem Weg zum Fahrstuhl hört Sig einen fettigen Rülpser hinter sich. Das war der Mönch. Sig ist sich völlig sicher. Aber vielleicht nimmt er die Malerei etwas zu ernst.
Soviel er sehen kann, ist Zimmer acht hübscher als erwartet. Um trotzdem dem Anblick weiterer Scheußlichkeiten vorzubeugen, läßt er das Licht aus. Er wirft den Matchsack in einen farblosen Sessel. Es macht Klack. Er hat zu weit geworfen. Zum Glück ist das Rasierwasser nicht ausgelaufen. In allen ihm schiefgehenden Sportversuchen (das sind alle) spürt er noch heute Dilgers Rache. Als hätte der die Fähigkeit, ihn mit einem Voodoo-Zauber zu verfolgen. Zum Glück ist Malerei kein Sport.
Vor dem Fenster beugt sich der milde Schwung eines kleinen Hügels. Darauf schläft ein Schlößchen, hinter dessen Schattenriß eine riesige Grapefruit am Himmel schwimmt. Vollmond. Zwei Straßenlaternen radieren mehlige Ovale aus dem Pflaster und schicken gemeinsam mit dem Mond ein träumerisch-welkes Licht ins Zimmer. Alle Konturen sind weich und alle Zwischenräume greifbar.
Bei solchem Licht ist Sig, als schwebe er. Als schwebe alles. Wenn die Welt schon fast ihre Farbe verloren hat, werden die Dinge brüderlich. Alles ist befreundet. Und alle sprechen mit dem Mond. Der Sessel macht sich rund, der Tisch hat einen Glanz, das Auto schnurrt vorbei, die Luft füllt alle Löcher, und der Ahorn winkt lässig mit seinen tausend Händen.
Und der Spiegel erlöst alle, die ihm die Ehre geben, aus ihrer Unsichtbarkeit.
Sig denkt sich eine Geschichte in das Zimmer. Er verteilt Requisiten: Einen Aktenkoffer, der außer Rasierapparat, Zahnbürste, «Penthouse» und Fahrkarte nichts enthält, auf den Sessel;
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